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ZEIT UND EWIGKEIT

Gemäß dem Verständnis der Heiligen der Letzten Tage beziehen sich Zeit und Ewigkeit gewöhnlich auf dieselbe Realität. Die Ewigkeit ist Zeit mit einem Adjektiv: Sie ist endlose Zeit. Die Ewigkeit ist nicht wie im platonischen und neoplatonischen Gedankengut supratemporal oder nicht zeitlich.

In Religionen, wo die Ewigkeit radikal im Kontrast zur Zeit steht, wird die Zeit als eine Illusion oder ganz und gar subjektiv oder eine flüchtige Episode angesehen. Gott und die höheren Realitäten werden als „jenseitig“ betrachtet. Dies ist auch noch die Prämisse beim Großteil des klassischen Mystizismus, christlich und nicht-christlich, wie auch bei der absolutistischen Metaphysik. Sie steht in vielen christlichen Glaubensbekenntnissen.

Aber Schriftstellen, die Gott Ewigkeit zuschreiben, sagen oder deuten nicht an, dass Gott unabhängig von oder außerhalb von oder jenseits der Zeit ist. Sie sagen auch nicht, mit Augustin, dass Gott die Zeit aus nichts geschaffen hat. Im Zusammenhang betonen sie, dass er immerwährend ist, dass er vertrauenswürdig ist, dass seine Zwecke nicht fehlschlagen.

Die Ansicht, dass Zeit und Ewigkeit  vollkommen unverträglich, vollkommen unvereinbar sind, hat schwere Konsequenzen für die Theologie. Falls Gott zum Beispiel supratemporal ist, könnte er nicht direkt in Bezug mit der Schöpfung gestanden haben, weil er außerhalb der Zeit-und auch jenseits des Raumes und keinen Veränderungen unterworfen-in diesen oder irgendeinen anderen Prozess eintreten könnte. Theorien der Ausstrahlung wurden eingeführt, um Gott als statisches Wesen aufrecht zu erhalten, und Vermittler wurden als Urheber der Schöpfung postuliert, zum Beispiel Intelligenzen, Heerscharen, Fülle göttlicher Macht etc.

Gemäß HLT-Verständnis war und ist Gott direkt an der Schöpfung beteiligt. Der kreative Akt war ein Prozess (das Buch Abraham spricht von Schöpfungs-„Zeiten“ anstelle von „Tagen“). Sein Einfluss auf die Schöpfung, damals und heute, wird nicht als ein Verstoß gegen seine Transzendenz oder seine Herrlichkeit und Herrschaft, sondern als eine teilnehmende Erweiterung davon verstanden.

Das Dogma von einer supratemporalen Ewigkeit führte zu einer weiteren Reihe von Widersprüchen im postbiblischen Gedankengut, den Paradoxen der Inkarnation. Das Kommen Jesu Christi wurde  innerhalb der Annahmen griechischer Metaphysik umgeformt: Gott der Universelle wurde bestimmt. Gott der Nicht-Zeitliche wurde zeitlich. Gott, der der Veränderung überlegen ist, veränderte sich. Gott, der die Zeit schuf, trat nun in sie ein. Die meisten christlichen Traditionen haben diese Paradoxe angenommen, aber das HLT-Gedankengut hat  sie nicht angenommen. In der HLT-Christologie war Jesus in der Zeit, bevor er in die Sterblichkeit kam, ist jetzt in der Zeit und wird es immer bleiben.

Was auch immer die Feinheiten der letztendlichen Natur der Zeit oder wissenschaftlicher Postulate über die Relativität der Zeit und über die Arten der Zeitmessung sind, mehrere Zusicherungen stellen Hauptpunkte des HLT-Verständnisses dar: 1. Die Zeit ist ein Abschnitt der Ewigkeit. Man kann Ewigkeiten, lange Zeitepochen, innerhalb der Ewigkeit unterscheiden. Beeinflusst von Passagen in den Schriften Abraham und Henoch spekulierten einige frühe HLT-Führer über die Länge einer Ewigkeit. Einer (W. W. Phelps) schlug vor, dass Zeit „in unserem System“ vor zwei Milliarden fünfhundert Millionen Jahren begann (T&S, Bd. 5, Nr. 24, S. 758). Auf jeden Fall hat die Zeit selbst keinen Anfang und wird auch kein Ende haben.

2. Die Zeit entfaltet sich in einer Richtung. Sie dehnt sich aus, anstatt sich präzise zu wiederholen. Die Ansicht einer ewigen Wiederkehr, die im Fernen Osten häufig vertreten ist und die zum Beispiel zum Pessimismus Schopenhauers führt, wird abgelehnt. Welten und Weltsysteme mögen kommen und gehen wie auch Zivilisationen aufsteigen und fallen mögen, aber die Geschichte wiederholt sich nicht genau. Individuelle kreative Freiheit modifiziert die Resultate.

3. Die Ewigkeit, als fortgesetzte Zeit, hat Zeitformen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gott selber, mit ewiger Identität, aus sich selbst existierend und daher ohne Anfang oder Ende, steht dessen ungeachtet in Beziehung zur Zeit. Auf seinem eigenen höchsten und unübertreffbaren Niveau, besitzt er eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Weder er noch seine Schöpfungen können in die Vergangenheit zurückkehren oder sie ändern. Er wurde zu dem, was er ist, über Äone vergangener Zeiten. Er steht jetzt in Beziehung zu seinen Schöpfungen und reagiert auf sie. Reaktion bedeutet Zeit und Veränderung.

4. Im kosmischen Sinne erfolgt die Zeitrechnung gemäß den Rotationen der Sphären. Man nimmt an, dass Gott, Engel, Menschen und Propheten die Zeit unterschiedlich berechnen (Abr. 3, LuB 130:4). Es bestehen einige Verbindungen zwischen Zeit und Raum, zum Beispiel „ein Tag zu einer Elle“ (Siehe Buch Abraham: Facsimiles vom Buch Abraham).

5. Das Ewige wird manchmal der Zeit gegenübergestellt, so wie das Dauerhafte dem Flüchtigen gegenübergestellt wird. „Jeder von Gott ausgehende Grundsatz ist ewig“ (LPJS, S. 184). „Für Zeit und Ewigkeit“ ist gleichbedeutend mit „jetzt und für immer“. In der christlichen Welt ist das HLT-Gedankengut in seiner Bekräftigung, dass Intelligenz, Wahrheit, „Grundsätze des Elements“, Priestertum, Gesetz, Bündnisse und Verordnungen ewig sind, nicht weit verbreitet.

6. Zeit wird in den Schriften gelegentlich als Synonym für die Sterblichkeit benutzt. In diesem Sinne wird die Zeit kommen, wenn „die Zeit nicht mehr ist“ (LuB 84:100, 88:110). Die sterbliche Bewährungszeit wird enden. Aber ein anderer Abschnitt einer messbaren Existenz wird folgen, nämlich das Millennium. Zeit und Ewigkeit fungieren auch als Ortsbezeichnungen oder Situationen wie in solchen Ausdrücken wie „nicht nur hier, aber in der Ewigkeit“ oder „die Visionen der Ewigkeit“ (Himmel). Ewig ist auch der Name Gottes-„Endlos und Ewig ist mein Name“-daher ist ewiges Leben Gottes Leben, wie es auch immerwährendes Leben ist (HC 1:136, LuB 19:10-12, Mose 1:3, 7:35).

Die These, dass Gott außerhalb der Zeit ist, wird manchmal angeführt, um Gottes Allwissenheit oder sein Vorherwissen zu erklären. Nur falls Gott irgendwie transtemporal ist, argumentiert man, kann er die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als „ein ewiges Jetzt“ sehen. Diese Position erscheint häufig in der postbiblischen Theologie. Aber dies führt wiederum zu einem Widerspruch: Was in der unbestimmten Zukunft geschehen wird, geschieht derzeit für Gott. Aber „jetzt“ und „geschieht“ sind zeitliche Wörter, die sowohl Dauer als auch Veränderung andeuten. Für Heilige der Letzten Tage, wie für die Bibel, ist Gottes Allwissen „in der Zeit“. Gott ahnt die Zukunft voraus. Sie ist ihm „gegenwärtig“, aber sie ist immer noch Zukunft. Wenn die Zukunft geschieht, wird sie für ihn wie für seine Geschöpfe zum ersten Mal geschehen. Das traditionelle Konzept von Allwissenheit „außerhalb der Zeit“ leitet sich weder vom Alten noch Neuen Testament ab, sondern ist von der griechischen Philosophie geborgt.

BIBLIOGRAPHIE

Kenney, Anthony. „Divine Foreknowledge and Human Freedom.“ In Aquinas, S. 255-70. Garden City, N.Y., 1967.

Robson, Kent E. „Omnipotence, Omnipresence, and Omniscience in Mormon Theology.“ In Line Upon Line: Essays on Mormon Doctrine, Hg. G. J. Bergera. Salt Lake City, 1989.

KENT E. ROBSON

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