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WISSENSCHAFT UND RELIGION

Weil Heilige der Letzten Tage an die letztendliche Übereinstimmung von aller Wahrheit und an die Ewigkeit des menschlichen Wissens glauben, neigen sie dazu sich der Wissenschaft auf positivere Weise zu nähern als einige Menschen anderer religiöser Traditionen, die sich auch auf eine starke Grundlage in den Schriften berufen. Der HLT-Lebensstil beinhaltet Begegnungen zwischen religiösen Ansichten und den Naturwissenschaften auf drei weitläufigen Gebieten. Größtenteils sind HLT-Reaktionen auf Entdeckungen des amerikanischen Altertums und der Archäologie der Neuen Welt enthusiastisch, aber manchmal vorsichtig, weil diese Funde möglicherweise das derzeitige Verständnis der alten Völker im Buch Mormon und der Geographie des Buches Mormon erweitern können. Heilige der Letzten Tage haben oft eine Abwehrstellung gegenüber Entwicklungen in der Geologie und Biologie, die sich auf die Natur der Schöpfung und das Alter der Erde beziehen, eingenommen, obwohl sie sie nicht notwendigerweise ablehnen (siehe Evolution; Ursprung des Menschen). Die Offenbarungen an Joseph Smith über eine Abrahamische Astronomie und drei Schöpfungsberichte haben, mit einiger Variation, ebenfalls ein positives Interesse an  astronomischen und kosmologischen Fragen geweckt. Insbesondere bestätigen diese Offenbarungen die Pluralität der Welten und eine Ausrichtung auf die Sonne als Mittelpunkt in den Schriften der alten Propheten. Historische, wissenschaftliche, philosophische und theologische Faktoren haben Diskussionen über Wissenschaft und Religion im HLT-Zusammenhang abgemildert.

Die Vorstellungen über die wissenschaftliche Erkenntnis haben sich seit der griechischen Antike viele Male geändert. So hat sich zum Beispiel das moderne Verständnis der Natur des Kosmos radikal geändert—von Aristoteles im frühen Griechenland über Galileo, Descartes und Newton im siebzehnten Jahrhundert und Lyell und Darwin im neunzehnten Jahrhundert bis zum zwanzigsten Jahrhundert mit Einstein, Hubble und Hawking. Die Wissenschaft selber ist in einem ständigen Wandel begriffen, so dass die gesamte Sammlung an wissenschaftlichen Ideen zu einem bestimmten Zeitpunkt nie als letztendliche Wahrheit betrachtet werden könnte. Daher sind wissenschaftliche Theorien von jeher provisorisch und höchstwahrscheinlich zu keinem Zeitpunkt vollkommen vereinbar mit offenbarter Religion.

Gelehrte heute erkennen dies und dass ältere Beschreibungen des „Konflikts“ oder der „Kriegsführung“ zwischen Wissenschaft und Christentum oft falsch lagen. Auch kann das HLT-Denken in Bezug auf die Wissenschaften so nicht beschrieben werden. Die Kirche unterscheidet sich durch ihre Annahme fortdauernder Offenbarung und die Einstellung, dass göttliche Offenbarung ihren Schriften und Lehren zugrundeliegt. Folglich nehmen Heilige der Letzten Tage an, dass Grundwahrheiten in Bezug auf religiöse Punkte und Gottes Schöpfungen nie in Konflikt zueinander stehen können, da Gott der Urheber beider ist. Sie freuen sich auf einen Zeitpunkt, wenn ein vollständigeres Wissen auf beiden Gebieten alle gegenwärtigen Auffassungen über diesen Konflikt hinter sich lassen.

Da frühe Offenbarungen an Joseph Smith Gedanken über die Natur des Universums und den Platz des Menschen darin einzuladen schienen, wurden Heilige der Letzten Tage dazu gebracht, sich über die Art des Optimismus in Bezug auf eine zukünftige Aussöhnung der Wissenschaften mit der Religion Gedanken zu machen, die für so viele ihrer Zeitgenossen typisch waren. Als positive Ideen und Einstellungen in Bezug auf die Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion mit zunehmender Überzeugung unter Heiligen der Letzten Tage in Erscheinung traten, begannen viele, wissenschaftliche Theorien und Beobachtungen zu gebrauchen, um ihre religiösen Ansichten zu stützen. Zwei Hauptgründe dafür scheinen folgende zu sein: (1) Die HLT-Theologie ist philosophisch an den positiven Begriff „wahrer“ Wissenschaft gebunden. Und (2) Heilige der Letzten Tage könnten sich auf die Wissenschaften zur teilweisen Unterstützung der offenbarten Welt der Wiederherstellung berufen (wahre Religion).

Diese HLT-Berufungen auf die Wissenschaft unterscheiden sich von den traditionellen christlichen Anstrengungen in natürlicher Theologie, die von der Annahme ausging, dass die Wissenschaften zu einer Theologie der Natur führen kann, in der Wissenschaft und Christentum vereinbar sind. Während einzelne Heilige der Letzten Tage offen philosophische Argumente und wissenschaftliche Beweise anbringen, um religiöse Ansprüche zu bestätigen, sind diese nie als offiziell oder schlüssig betrachtet worden. Heilige der Letzten Tage neigen dazu, der natürlichen Theologie gegenüber skeptisch zu sein, weil die Existenz und Eigenschaften Gottes nur durch Offenbarung erkannt werden können, aber nicht durch spekulative Theologie.

Einige grundlegende Kirchenlehren wirken zusammen um eine positive Einstellung zur Wissenschaft noch mehr zu fördern. Weil Gott seine Schöpfungen durch Naturgesetze regiert, deren Autor er ist, ist die Wissenschaft ein wichtiger Faktor für die menschen, um Gottes Leitung der Welten zu verstehen. Darüber hinaus lehren HLT-Schriften: „Die Herrlichkeit Gottes ist Intelligenz – oder, mit anderen Worten, Licht und Wahrheit“ (LuB 93:36). Und jeglicher Grundzug der Intelligenz, den wir uns in diesem Leben zu eigen  machen, wird uns im nächsten Leben ein Vorteil sein (LuB 130:18-19). Zuguterletzt gebrauchen Heilige der Letzten Tage pragmatische und empirische Methoden als legitime Mittel, um sich Kenntnisse anzueignen. Sie glauben, dass Gott von ihnen erwartet, dass sie alle Arten von Wissen nutzen, einschließlich Offenbarung und Wissenschaft. Allerdings steht Offenbarung immer an erster Stelle. Und es gibt unter Heiligen der Letzten Tage wenig Sympathie für eine Betonung auf die Wissenschaften, die dazu führt, ein aus den Schriften erlangtes Verständnis abzulehnen.

Während HLT-Veröffentlichungen von 1832 bis zum Auszug aus Nauvoo im Jahre 1846 gelegentlich wissenschaftliche Ideen untersuchten, ergaben sich ein weitläufiger Gebrauch und die Diskussion wissenschaftlicher Themen erst in den 1850er Jahren. Frühe Spekulationen der Heiligen der Letzten Tage über die Wissenschaften wurden gelegentlich in Konferenzansprachen geäußert und im Journal of Discourses, dem Millennial Star und in den Schriften der Apostel Parley P. Pratt und Orson Pratt veröffentlicht. Zum Beispiel schrieb Orson Pratt, der erste HLT-Wissenschaftler-Philosoph, im Jahre 1873, dass „der größte Tempel der Wissenschaften auf der festen Grundlage immerwährender Wahrheit gebaut werden muss. Seine emporstrebenden Türme müssen immer höher und höher reichen, bis sie mit der Herrlichkeit und Gegenwart dessen gekrönt werden, der ewig ist“ (Deseret News 22 [1873]:586).

Beginnend mit den 1890ern schöpften positive HLT-Spekulationen über die Wissenschaft im Allgemeinen und besonders auf solchen Gebieten wie Astronomie, Kosmologie, Evolution, Geologie und Paleontologie, wenn auch nicht immer  harmonisch, aus dem Gedankengut der ersten akademisch geschulten HLT-Wissenschaftler (und später Generalautoritäten) James E. Talmage, John A. Widtsoe, Joseph F. Merrill und Richard R. Lyman. Alle vier von diesen höchsteinflussreichen Aposteln benutzten ihr wissenschaftliches Fachwissen, um die Ansicht voranzutreiben, dass „korrekte“ Wissenschaft und offenbarte Religion in enger Harmonie zueinander stehen, weil Gott beide hervorgebracht hat. So stellte Talmage die rhetorische Frage: „Was untersucht die Wissenschaft?“ Seine Anwort: „Alles. Wissenschaft ist ... der Natur. Und die Natur ist die sichtbare Proklamation des göttlichen Willens…. Es gibt nichts, das zu klein oder zu groß ist, dass die Wissenschaft davon nicht Kenntnis nimmt…. Die Natur ist die Kopie des Wissenschaftlers und Wahrheit sein Hauptziel“ (ca. 1895). „Für unsere jungen Leute“, schrieb Talmage an anderer Stelle, „betrachte ich die wissenschaftliche Erkenntnis als fast ebenso wichtig wie das Wissen, das sich auf die Kirche und das Reich Gottes bezieht…. Die Natur, wie wir sie untersuchen, ist nur der Tempel des Allmächtigen“ (ca. 1900).

1930 schrieb Widtsoe:
Wissenschaft…ist die Erkenntnis der Realitäten der Existenz durch den Verstand und die menschlichen Sinne. Der Verstand eines Menschen ist ein edles Mittel, ein hervorragender Besitz, durch den er sich nicht nur seiner eigenen Existenz, sondern auch der Umstände der äußerlichen Natur bewusst wird…. Der Ruhm physischer Errungenschaften, zu Land, auf dem Wasser und in der Luft, hat oft die Menschen derart betäubt, dass sie vergessen haben, dass hinter all dem Entdecken und Fortschritt die Macht der Beobachtung und des Denkens steht. Ohne den Verstand gibt es keine Wissenschaft, keinen Fortschritt, nur Untergang [In Search of Truth (Salt Lake City, 1930), S. 36-37].

Später schrieb Widtso in Evidences and Reconciliations, einem seiner bekanntesten Bücher: „Die Kirche unterstützt die Ausdehnung der Wissenschaften und heißt sie willkommen…. Die Religion der Heiligen der Letzten Tage steht keiner Wahrheit oder der wissenschaftlichen Suche nach Wahrheit feindlich gegenüber“ (Bd. 1, S. 129).

Andere (nicht wissenschaftliche) Kirchenautoritäten, die während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieben, hauptsächlich Joseph Fielding Smith und später Bruce R. McConkie, kritisierten lebhaft die Ideen einiger, dass die Schriften mit wissenschaftlichen Theorien in Einklang gebracht werden könnten,  insbesondere Evolutionsberichte über den Ursprung des Menschen.

Talmage, Widtsoe und B. H. Roberts schrieben während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderst und trugen nach anfänglichen Jahren des Kirchenwachstums wahrscheinlich mehr als alle anderen HLT-Autoritäten—mit der möglichen Ausnahme der Pratt Brüder—zu wissenschaftlichen Themen und deren mutmaßlicher Harmonie mit dem Evangelium bei. Dass diese Einstellung weiterhin besteht und innerhalb der HLT-Kultur, besonders unter HLT-Wissenschaftlern, gefördert wird, wird auch in neueren Studien gezeigt, die besagen, dass die HLT-Gemeinschaft mehr Wissenschaftler pro Kopf hervorgebracht hat als die meisten religiösen Gruppen im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderst (siehe Wissenschaft und Wissenschaftler).

BIBLIOGRAPHIE

Die genaueste gelehrte Untersuchung der komplexen Beziehung zwischen den Naturwissenschaften und der Religion vom Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert findet man in David Lindberg und Ronald Numbers, Hgg., God and Nature: Historical Essays on the Encounter Between Christianity and Science (Berkeley, Calif., 1986). Betreffes einer Diskussion zahlreicher Fragen in Bezug auf die Wissenschaft und die HLT-Kirche von prominenten HLT-Wissenschaftlern und Autoritäten, einschließlich Henry Eyring, Carl J. Christensen, Harvey Fletcher, Franklin S. Harris, Joseph F. Merrill, Frederick J. Pack und John A. Widtsoe siehe Henry Eyring et al., Science and Your Faith in God (Salt Lake City, 1958). Betreffs einer Diskussion von HLT-Wissenschaftlern, die die Vereinbarkeit ihres Glaubens mit ihrem Fachgebiet bekräftigen siehe Wilford M. Hess, Raymond T. Matheny und Donlu D. Thayer, Hgg., Science and Religion: Toward a More Useful Dialogue, 2 Bde. (Geneva, Ill., 1979). Über das Thema amerikanische Antiquitäten siehe John Sorenson An Ancient American Setting for the Book of Mormon (Salt Lake City, 1985). Betreffs  einer Besprechung von Fragen in Bezug auf Evolution oder Geologie siehe Duane E. Jeffery, „Seers, Savants and Evolution: The Uncomfortable Interface“, Dialogue 8 (Herbst-Winter 1973): 41-75 und Morris S. Petersen, „[Fossils and Scriptures]“, Ensign 17 (Sept. 1987): 28-29. Betreffs einer ausführlichen Untersuchung der Wissenschaft und Kosmologie und ihrer Beziehung zur HLT-Theologie siehe Erich Robert Paul, Science, Religion, and Mormon Cosmology (Champaign, Ill., 1991).

ERICH ROBERT PAUL