Die Wahrheitsvorstellung der Heiligen der Letzten Tage lässt sich in keine Kategorie, mit der die herkömmliche Philosophie des Westens sie diskutiert hat, einordnen. Wahrheit bedeutet für Mitglieder der Kirche das eigene Leben so zu gestalten, wie Christus es vorgelebt hat.
Gemäß der Tradition der westlichen Philosophie ist Wahrheit die Eigenschaft oder Qualität einer Idee oder Äußerung, die Glaube an ihr rechtfertigt. Aber was diese Eigenschaft sein soll wurde zum Gegenstand jahrelanger Debatten. Einige erklärten es sei das Übereinstimmen von Realität mit dem Wahren einer Aussage; oder es sei der Zusammenhang mit weiterern Aussagen, praktischer Nützlichkeit oder Konsequenzen. So verheerend sind diese Theorien in jüngster Zeit attackiert worden, dass sich viele Philosophen von der traditionellen Unterstellung, dass es eine feste oder absolute Wahrheit gäbe, distanziert haben. Jetzt meinen sie unser Wissen hinsichtlich der Welt sei von der Eigenheit der Partikularsprache, welche dieses Wissen ausdrückt, so stark beinflusst worden, sie könne höchstens als Auslegung bezeichnet werden. Ihrer Ansicht nach ist es grundlos behaupten zu wollen man wisse „wie die Dinge wirklich sind.“ Was auch immer als Wahrheit exestiert, so ihr Argument, sie verbleibt gemäß der Sprache des Redners, der Kultur und Situation relativ. Absolute Wahrheit, von der man denkt sie sei das Eigentum von Ideen oder Äußerungen, ist eine Vorstellung, die in Not geraten ist.
Im Allgemeinen ist man der Ansicht, dass Heilige der Letzten Tage absolute Wahrheit so verstehen, dass sie den Erörterungen der Relativisten gegenüber anfällig ist. Aber, wie die Schriften der Kirche und die Gespräche ihrer Mitglieder schon freilegen, ist der Grund warum ihre Ansichten unter den traditionellen Alternativen – oder irgendeiner Kombination dergleichen – nicht auffindbar sind der, dass Wahrheit für sie größtenteils keine Sache der Richtigkeit einer Idee oder Äußerung ist. Und obschon Heilige der Letzten Tage von Äußerungswahrheiten öfters reden, bezeichnen sie mit dem Wort „Wahrheit“ meistens einen ganzen Lebensstil – speziell die Lebensart, die Christus ihnen vorschrieb, vorlebte, und darin führte.
Dieses Verständniss der Wahrheit er- und enthält Bedeutungen bezüglich dieses Wortes, die schon in uralten Berichten vorkamen. Zum Beispiel, Kern der ursprünglichen Idee „wahr-zu-sein“ beinhaltete Bestimmungen wie, „unerschütterliche ... Treue zum Befehlshaber oder Freund, Grundsatz, oder Ursache.... vertrauenswürdig, getreu, konstant, zuverlässig,” “ehrlich, ehrenhaft, aufrecht, tugendhaft, …. “frei von Falschheit, aufrichtig” (“True,” Oxford English Dictionary). Vorrangig unter den Urbedeutungen im Englischen war das Wort troth, welches soviel wie ein Treuegelöbnis oder Bündnis bedeutet, das in aller Aufrichtigkeit und ohne Falschheit gemacht worden war („Truth“ OED). Sinngemäß dieser uralten Etymologien glauben Heilige der Letzten Tage, dass in Wahrheit zu leben soviel bedeutet wie der Verpflichtung nachzukommen Jesus mit aufrichtigem Herzen folgen zu wollen.
Da Jesus die Tugend wahr und treu zu sein in aller Vollkommenheit verkörpert (in diesem Fall das Leben, welches sein Vater von ihm forderte), gibt es jene ausschlaggebende Deutung, dass er die Wahrheit selber ist. „Ich bin der Weg, „sagte er, „die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14:6). „Er empfing eine Fülle der Wahrheit” (LuB 93:26). Sein kosmischer Einfluss, auch „das Licht Christi“ genannt, ist ferner „das Licht der Wahrheit“ und verleiht allem Leben; es erleuchtet die Seele des Menschen. An Hand dieses Lichtes hat Christus „alles erfaßt“ und ist „in allem“ und „durch alles“ (LuB 88:6-7); er ist durchdringende Ausstrahlung und Präsens. Wenn dem Wort „Wahrheit“ diese Klarstellung zugeschrieben wird, dann sollte es nicht sonderlich sein, wenn von ihr – dem Sinne einer der Schlüsseloffenbarungen gemäß – gesagt wird, die „Wahrheit leuchtet“ (LuB 88:6-13)
Die Schriften der Heiligen der Letzten Tage geben zu erkennen, dass Menschen „durch die Macht des Heiligen Geistes... von allem wissen [können], ob es wahr ist“ (Moro. 10:5). Das Wesentliche gemäß dieses Zusammenhangs ist, dass der Mensch, der in Gehorsam wandelt sich an der Erkenntnis, die ihm durch das Licht der Wahrheit zuteil wird, erfreut. „Wer seine Gebote hält, empfängt Wahrheit und Licht, bis er in der Wahrheit verherrlicht ist und alles weiß“ (LuB 93:28). Der Herr zeigte Jareds Bruder, eine Hauptfigur im Buch Mormon und ein Mensch außergewöhnlichen Glaubens, „alle Bewohner der Erde... bis an die Enden der Erde.“ „Denn schon zu früheren Zeiten hatte er ihm gesagt, wenn er an ihn glauben würde, daß er ihm alles zeigen könne“ (Ether 3:25-26). Weitere Propheten machten ähnliche Erfahrungen (Mose 1:8; 27-29; 7:21; Abr. 3:12).
Es gibt eine gewisse Definition bezüglich der Wahrheit, die Heiligen der Letzten Tage in ihren Schriften besonders bekannt vorkommt: „Wahrheit ist Kenntnis von etwas, wie es ist und wie es war und wie es kommen wird“ (LuB 93:24). Wenn man dieses Zitat aus seinem richtigen Zusammenhang herauslöst (was öfters vorkommt), hört sich diese Deutung wie eine Aussage der Korrespondenztheorie an. Jedoch innerhalb seines Kontextes drückt es die moralisch reichere Idee einer allumfassenden Realitätsvision aus, die denen zukommt, die in der Wahrheit getreu wandeln.
Somit ist Ungehorsam und Untreue eine Verwerfung des Lichts der Wahrheit. Satan ist derjenige, „der ein Lügner war von Anfang an“ (LuB 93:25), und immer danach trachtet unser „Herz von der Wahrheit abzuwenden“ (LuB 78:10); zum Teil, indem er Menschen dazu bringt selber Lügner und Betrüger zu werden (LuB 10:25). Der Grund ist „die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, haßt das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden“ (Joh. 3:19-20). Es ist nicht wegen seiner Fehler, dass der Herr den Menschen verdammt, sondern weil er der Wahrheit wiederstrebt wenn er sie hätte empfangen können.
Demzufolge hat Erlösung im Sinne Heiliger der Letzten Tage damit zu tun, wie man in der Wahrheit und besonders in der Erkenntnis des Evangeliums Jesu Christi wächst. Joseph Smith lehrte, „der Mensch wird nicht schneller selig, als er Erkenntnis erlangt“ (LPJS, 184; vgl. CH 4:588). Diesem Zusammenhang entsprechend kann keiner unwissend hinsichtlich des Evangeliums Jesu Christi erlöst werden. Heilige der Letzten Tage sehen Wahrheit nicht nur als Eigentumsbereich der Sprache, sondern als Kern ihrer Gehorsamstreue dem Erlöser gegenüber. Sie würden diese Zitate nie so interpretieren als ob Gelehrte und Wissenschaftler größere Chancen hätten errettet zu werden, wie andere. Erkenntnis, und so zu werden wie Gott ist, sind zwei Aspekte eines einheitlichen Vorgangs. Es stellt klar, warum Heilige der Letzten Tage soviel Wert auf Bildung, das Beherrschen der Schriften und auf ein rechtschaffenes Leben legen.
Mit Joseph Smith angefangen, haben Propheten der jetzigen Dispensation schon immer den Standpunkt verteidigt, dass Heilige der Letzten Tage keinen exklusiven Zugang zur Wahrheit haben. Gott erleuchtet das Verständnis aller Menschen. Deshalb haben die Präsidenten der Kirche von Anbeginn darauf bestanden, dass insofern der Mensch im Besitz irgendeiner Wahrheit ist (und das ist er), „ob moralisch, religiös, philosophisch, oder anderer Art und sie darauf bedacht ist dem Menschen Nutzen zu bringen,... werden [wir] es annehmen“ (John Taylor, JD 1:155). Neuzeitliche Propheten bestehen darauf, dass jene erforderlichen Erlösungswahrheiten des Evangeliums Jesu Christi besonders durch sie in heutiger Zeit offenbart worden sind.
BIBLIOGRAPHIE
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C. TERRY WARNER