Vor der sterblichen Geburt existierten Individuen als Männer und Frauen in einem Geistzustand, in dem sie mit dem Vater und dem Sohn gemeinsam lebten. Diese Zeitperiode des Lebens wird auch Erster Stand oder Vorexistenz genannt.
Die Bibel schildert den Gedanken, dass die Menschheit vor der sterblichen Geburt eine Vorbereitungszeit hatte. Der Herr sagt zu Jeremia: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt“ (Jeremia 1:5). Kohelet erklärt, dass „der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat“ (Kohelet 12:7). In anderen Schriftstellen, beispielsweise Alma 13:3, steht, dass Priester „von Grundlegung der Welt an gemäß dem Vorherwissen Gottes und aufgrund ihres außerordentlichen Glaubens und ihrer guten Werke berufen und vorbereitet“ waren.
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Intelligenz, die in jeder Person weilt, ebenso ewig ist wie Gott. Die Intelligenz hat immer existiert und ist nie erschaffen, oder gemacht worden (LuB 93:29). Zu gegebener Zeit wurde dieser Intelligenz ein Geistkörper gegeben, wodurch sie ein Geistkind Gottes, des ewigen Vaters und seiner geliebten Partnerin, der Mutter im Himmel, wurde. Dieser Geist, dem die ewige Intelligenz innewohnte, nahm die Gestalt seiner Erschaffer an und ist ihr Ebenbild (Ballard, S. 140).
Dem Propheten Joseph Smith wurde offenbart, dass wir alle buchstäbliche Söhne und Töchter himmlischer Eltern sind. Er empfing eine Offenbarung über Wahrheiten, die einst Mose offenbart wurden: „Ich bin Gott; ich habe die Welt gemacht und die Menschen, ehe sie im Fleische waren“ (Mose 6:51). Das gibt ebenfalls die Folgerung in Numeri 16:22 an, nämlich dass Gott der Vater aller ist und somit der „Gott der Geister , die alle Menschen beleben.“
Intelligenzen wurden geformt, ehe die Welt war. Unter ihnen gab es viele Große und Edle, wie zum Beispiel Abraham und Mose. Gott stand in ihrer Mitte und sah ,dass sie gut waren. Er teilte ihnen Verantwortungen auf Erden und für alle Ewigkeit zu (Abraham 3:21-23). Jesus, der erstgeborene Geist, war der Herrausragendste unter ihnen. „Jesus...lebte vor seiner Geburt im Fleische beim Vater; und...er wurde im Vorirdischen Dasein als der einzige Erretter und Erlöser der Menschheit erwählt und ordiniert“ (JC, S.6).
Das Buch Offenbarung weist darauf hin, dass alle Dinge, sogar die Erde selbst, vor ihrer physischen Erschaffung als Geist existiert hat. Elder Joseph Fielding Smith schrieb: „Nicht nur der Mensch hat einen Geist, wodurch er zu einer lebendigen Seele wird, sondern auch die Tiere auf dem Feld, die Vögel in der Luft und die Fische des Meeres haben Geister, weshalb sie lebendige Seelen sind.... Die Fische, die Vögel und die Tiere auf dem Feld haben gelebt, bevor sie auf natürliche Weise auf diese Erde gesetzt wurden. Ebenso war es mit den Pflanzen, die auf dem Angesicht der Erde sind. Die Geister, die die Körper von Tieren besitzen, ähneln ihren Körpern“ (DS 1:63-64). Gemäß einer Stelle in der Bibel „gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und [es] wuchsen noch keine Feldpflanzen“ (Genesis 2:5). Der Herr Gott hatte diese jedoch schon zuvor erschaffen. Dies wird in einer parallelen Schriftstelle mit folgenden Worten deutlich: „Denn ich, der Herr, Gott, erschuf alles, wovon ich gesprochen habe, geistig, ehe es natürlich auf dem Antlitz der Erde war....denn ich, der Herr, Gott, hatte alle Menschenkinder erschaffen und doch noch keinen Menschen, der die Erde bebaute, denn im Himmel erschuf ich sie“ (Mose 3:5).
Der Prophet Joseph Smith lehrte, dass „Gott selbst, der sich inmitten von Geistern und inmitten von Herrlichkeit befand, weil er intelligenter war, es ratsam fand, Gesetze aufzustellen, wodurch die übrigen [Intelligenzen] das Vorrecht hätten, sich wie er weiter zu entwickeln“ (LPJS, S. 354). Sein Plan schloss mit ein, dass er seine Söhne und Töchter zur Erde (der zweite Stand) senden würde, damit sie einen Körper aus Fleisch und Knochen erhalten und durch irdische Unbeständigkeit aus Erfahrung lernen würden, ohne Erinnerung an den Ersten Stand und mit der Kraft zu scheitern oder erfolgreich zu sein.
In einem Rat im Himmel, um das Erdenleben im Vorraus zu prüfen, rief der Herr alle seine Geistkinder zu sich und legte den Plan der Erlösung vor. Demgemäß würden sie auf diese Erde kommen, ein sterbliches Leben mit physischen Körpern führen, eine Bewährungszeit in der Sterblichkeit durchgehen und Fortschritt in eine höhere Erhöhung machen. Die Angelegenheit wurde diskutiert, um zu bestimmen, gemäß welchem Prinzip die Erlösung, Erhöhung und ewige Herrlichkeit der Söhne und Töchter Gottes zustande gebracht werden würde (vgl. DS 1:58). Der Erstgeborene Gottes erklärte sich freiwillig dazu bereit, den Plan der Erlösung umzusetzen (Abraham 3:27). Luzifer, der auch ein Sohn des Vaters war, trat mit einem Gegenvorschlag vor: „Siehe, hier bin ich, sende mich; ich will dein Sohn sein, und ich will die ganze Menschheit erlösen, dass auch nicht eine Seele verlorengeht, und gewiss werde ich es tun; darum gib mir deine Ehre“ (Mose 4:1). Luzifer, der sich bereits in einem erhöhten Zustand befand, trachtete danach, sich selbst zu verherrlichen und die Entscheidungsfreiheit des Menschen zunichte zu machen, ohne Rücksicht auf die Rechte und Entscheidung anderer (JC, S. 7-8). Der Vater sagte: „Ich werde den ersten senden“ (Abraham 3:27).
Diese Entscheidung veranlasste die Himmelsschaaren dazu, sich gegeneinander zu stellen. Ein Drittel lehnte sich auf und wurde mit Luzifer aus dem Himmel vertrieben. „Ihnen wurde das Privileg vorenthalten, in diese Welt geboren zu werden und einen sterblichen Körper zu empfangen.... Der Herr verstieß sie auf die Erde, wo sie Versucher der Menschheit wurden“ (DS 1:65; vgl. Judas 1:6).
Elder James E. Talmage schrieb: „Das Angebot des erstgeborenen Sohnes, durch sein eigenes geistiges Wirken unter den Menschen das Evangelium der Erlösung einzuführen und sich selbst durch harte Arbeit, Demütigung und Leiden, sogar bis zum Tod, zu opfern, wurde angenommen. Dies bildete den vorherordinierten Plan der Erlösung der Menschen vom Tod, der schließlichen Erlösung von den Auswirkungen von Sünde und der möglichen Erhöhung durch rechtschaffene Errungenschaft“ (JC, S. 18). Elder Joseph Fielding Smith erklärte: „Gott gab seinen Kindern ihre Entscheidungsfreiheit, sogar schon in der Geisterwelt. Dadurch hatten die einzelnen Geister das Vorrecht, ebenso wie die Menschen es hier haben, das Gute zu wählen und das Böse abzulehnen, oder sich vom Bösen verleiten zu lassen und die Konsequenzen ihrer Sünden zu erleiden“ (S. 318-19).
Der Prophet Alma im Buch Mormon erläutert die Möglichkeiten, die den Geistkindern Gottes im Vorirdischen Dasein vorgelegt wurden: „Zuallererst war es ihnen überlassen, Gut oder Böse zu wählen; weil sie nun das Gute erwählt und überaus großen Glauben ausgeübt haben, sind sie durch eine heilige Berufung berufen ...während andere den Geist Gottes aufgrund der Härte ihres Herzens und Verblendung ihres Sinnes verwerfen, während sie, wenn es nicht deswegen wäre, eine ebenso große Freiheit gehabt hätten wie ihre Brüder. Oder kurz gesagt, zuallererst waren sie auf derselben Stufe wie ihre Brüder; und so war diese heilige Berufung von Grundlegung der Welt an für diejenigen bereitet, die ihr Herz nicht verhärten würden, und sie war in dem Sühnopfer des Einziggezeugten Sohnes, der bereitet worden war, und durch dasselbe“ (Alma 13:3-5; Hervorhebung hinzugefügt). „Zuallererst“ bezieht sich hier auf den ersten Stand oder die vorirdische Existenz einer Person.
Die Lehre der Vorherordinierung, die in den oberen Absätzen erwähnt wird, bedeutet, dass viele mit Berufungen und Verantwortungen zur Erde kommen werden, die ihnen vor diesem Leben zugewiesen wurden. Der Prophet Joseph Smith lehrte: „Jeder Mensch, der die Berufung hat, unter den Bewohnern der Erde geistig zu wirken, wurde zu genau diesem Zweck im Großen Rat im Himmel, ehe es diese Welt gab, ordiniert“ (LPJS, S. 365). Abraham wurden die großen und edlen vorirdischen Geister gezeigt. Der Herr sagte zu ihm: „Du bist einer von ihnen; du wurdest erwählt, ehe du geboren wurdest“ (Abraham 3:22-23). Das zu den Apocryphen (des Alten Testaments) gehörende Buch Tobit geht ebenfalls auf den Gedanken ein, dass es im Vorirdischen Dasein Aufträge gab, die die Sterblichkeit betreffen konnten (6:17). Obwohl einige zu besonderen Missionen auf der Erde vorherordiniert wurden, machte Elder Joseph Fielding Smith die Aussage, dass „niemand dazu vorherordiniert oder bestimmt wurde, zu sündigen, oder eine Mission des Bösen zu erfüllen“ (DS 1:61). Vorherordinierungen und Berufungen unterdrücken nicht die Entscheidungsfreiheit oder den freien Willen.
Die Beschaffenheit des Lebens in der Geisterwelt hat wahrscheinlich Einfluss auf die Gesinnung und die Begierden dieser Person im sterblichen Leben. Von denjenigen, die in der vorherigen Welt edel und groß waren, erwählte der Herr seine Propheten und Herrscher auf Erden, dem zweiten Stand. Er kannte sie, ehe sie geboren waren und er weiß wer ihm vorraussichtlich in der Sterblichkeit dienen wird. Eigenschaften des Geistes, die sich während der Erfahrungen in der vorherigen Existenz entwickelt haben, können im Fortschritt des Menschen in der Sterblichkeit eine wichtige Rolle spielen (vgl. DS 1:60). „Schon ehe sie [die Propheten] geboren wurden, erhielten sie mit vielen anderen in der Welt der Geister ihre ersten Unterweisungen und wurden darauf vorbereitet, zu der vom Herrn bestimmten Zeit hervorzukommen und in seinem Weingarten für die Errettung der Menschenseelen zu arbeiten“ (LuB 138:56).
Der Gedanke, dass Gottes Geistkinder einige charakteristische Fähigkeiten entwickelt haben, aber dennoch ohne Erinnerung zur Erde kommen, ähnelt der Äußerung in Wordsworths „Ode, Hinweise auf die Unsterblichkeit durch Erinnerungen an die frühe Kindheit“: „Geburt, das ist nur Schlaf und ein Vergessen: Nach uns ziehend Wolkenglanz und Glorienschein,
von Gott wir kommen, er ist unser Heim“ (Verse 58, 64-65). Der Apostel Orson Hyde verkündete, dass ein Mangel an Erinnerung nicht heißt, dass die Menschheit kein vorirdisches Leben hatte. Er erklärte, dass viele Menschen ihr Heimatland verlassen, um in einem anderen Land zu leben. Jedoch kann nach etlichen Jahren die Erinnerung an das damalige Land fast ausgelöscht werden, als ob es nie existiert hätte. „Wir haben es vergessen!...Dennoch kann unser Vergessen nichts an den Tatsachen ändern“ (JD 7:315).
Demgemäß zeichnet sich das Vorirdische Leben aus Sicht der Heiligen der Letzten Tage durch Individualität, Entscheidungsfreiheit, Intelligenz und die Gelegenheit zu ewigem Fortschritt aus. Es handelt sich dabei um eine zentrale Glaubenslehre der Kirche und bietet Klarheit in Bezug auf die alt bekannte Frage: „Woher kommt der Mensch?“
BIBLIOGRAPHIE
Ballard, Melvin J. Sermons and Missionary Services of Melvin J. Ballard, comp. Bryant S. Hinckley, p. 140. Salt Lake City, 1949.
Smith, Joseph Fielding. “Is Man Immortal?” IE 19 (Feb. 1916):318-19.
GAYLE OBLAD BROWN