Die Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bestätigten Gott und seine Offenbarungen als höchste Autorität. Jedoch sollte Offenbarung nicht als Hemmschuh von rationaler Forschung betrachtet werden. Vielmehr erstellt sie den Rahmen in dessen Bereich der angeborene Wunsch nach Erkenntnis am energischsten und ergiebigsten ausgeübt werden kann. Demgegenüber steht der traditionelle Judaismus und Islam, wo Offenbarung vorwiegend als Gesetz verstanden wird. Das bedeutet, dass ein orthodoxes Leben und frommer Gehorsam dem fragenden Geist eines philosophischen Lebens keinen Platz einräumt. (Siehe Religionen der Welt [Nicht-Christen] und Mormonismus; auch Mormonismus, Mormonen). Die christliche Ansicht, dass Religion Glaube ist und Offenbarung Lehren und Grundsätze sind, hat seit Jahren ein scharfes Interesse betreffs der Aussöhnung zwischen der Autorität offenbarter Religion und dem Bereich der Vernunft geweckt. So gesehen ist unter den geoffenbarten Religionen das Christentum zugleich am empfänglichsten und am anfälligsten gemäß den Forderungen der Vernunft.
Die theologische Überlieferung des mittelalterlichen Christentums betrachtete das Evangelium als übersinnliche Erfüllung brillianter aber unvollständiger Einsichten natürlicher Vernunft, so wie griechische Philosophen – besonders Platon und Aristoteles – es vertraten. Christliche Philosophen, wie Augustinus und Thomas von Aquin stimmten ihren heidnischen Vorgängern insofern zu, dass Vernunft die erhabenste natürliche Fähigkeit des Menschen ist. Jedoch bestanden sie darauf, dass das Endziel aller Vernunft, nämlich Gott, nicht ohne Mithilfe von Offenbarung zu erreichen sei. Dementsprechend hielt man Offenbarung als vorrangig. Aber selbst diese Vorrangigkeit war, im gewissen Sinn, gemäß dem Begriff des Guten der vorchristlichen Philosophie geprägt worden.
Die Väter der protestantischen Bewegung nahmen diese Allianz zwischen klassischer Philosophie und dem Evangelium in Angriff und neigten dazu, die Vernunft zu einem Instrumentalstatus zu relegierten. Dennoch betrachteten protestantische Kleriker im Rahmen dieser Einschränkung den Gebrauch von Vernunft als ausschlaggebend für die Verherrlichung Gottes. Auf diese Weise schuf die Reformation die Grundvorraussetzungen einer sich später entwickelnden Verschwägerung zwischen Glaube und technischer Wissenschaft.
Was Heilige der Letzten Tage betrifft, artet sich ihre Grundlage bezüglich der Vernunftsfrage anders aus, wie es zwischen Protestanten und Katholiken der Fall ist. Ihre Lehre betont das Weiterbestehen beider Bereiche, des Göttlichen und des Natürlichen. Der Grund dieses Fortbestehens beruht zum Teil auf der ewigwährenden Bedeutung menschlichen Verstehens. Mitglieder der Kirche sehen die Würde des menschlichen Sinnes aber nicht als alleinige Basis dieses Fortschreitens. Stattdessen blicken sie auf die Erhöhung des Menschen schlechthin – nicht nur als jemand der Wahrheit begreift sondern auch als Gottes Diener und Segensquelle seiner Mitmenschen und Nachfahren. Ferner unterscheiden sich die Grundsätze Heiliger der Letzten Tage von christlich-jüdischen Überlieferungen, indem sie die Notwendigkeit gegenwärtiger sowohl als zukünftiger Offenbarung betreffs des Einzelnen und der Kirche betonen; das gilt auch hinsichtlich dem endgültigen Zweck dieser Anstrebungen.
Mahnungen wider den Hochmut menschlicher Vernunft treten des Öfteren in den Schriften auf. Dementsprechend verwirft der Prophet Jakob im Buch Mormon Arroganz als “die Eitelkeit und die Schwächen und die Narrheit der Menschen! Sind sie gelehrt, so denken sie, sie seien weise, und sie hören nicht auf den Rat Gottes, denn sie schieben ihn beiseite und meinen, sie wüßten aus sich selbst; deshalb ist ihre Weisheit Narrheit, und sie nützt ihnen nicht. Und sie werden zugrunde gehen. Aber es ist gut, gelehrt zu sein, wenn man auf Gottes Ratschläge hört“ (2 Ne. 9:28-29). Somit spricht er ein Thema an - die wichtige Bedeutung des Lernens an sich – welche fast so hervorstechend in den Lehren Heiliger der Letzten Tage ist, wie die Notwendigkeit der Offenbarung. Dies wird besonders in den Lehren und Bündnisse betont, wo es den Heiligen auferlegt wird nach Wissen aller Art „durch Studium und auch durch Glauben” zu trachten (LuB 88:78-79, 118).
Obwohl es ein Ziel der rationalen Ermittlung ist das Missionswerk aufzuwerten (LuB 88:80), übersteigt das Lernen an sich jegliche praktische Ausübung. In der Tat ist diese intellektuelle Freude am Lernen eng mit der Erhöhung des Menschen verbunden, der sich den „Bedingungen“ oder „Gesetzen“ des Reiches, die er oder sie erlangen will, anpassen muss. „Denn Intelligenz hält fest an Intelligenz; Weisheit empfängt Weisheit; Wahrheit nimmt Wahrheit an; Tugend liebt Tugend; Licht hält fest an Licht“ (LuB 88:38-40). Solche Vollkommenheit bezieht sich auch auf die natürlichen Fähigkeiten des Menschen, geführt und geleitet durch allgemeine und persönliche Offenbarung. Denn letztendlich ist das Licht, „[das] euch die Augen erleuchtet“ und „das euch das Verständnis belebt“ das „das Licht Christi,“ das „Licht der Wahrheit... das in allem ist“ (LuB 88:6, 7, 11, 13); vgl. Moro. 7:16-25).
Offenbartes und natürliches Licht sind keine völlig eigenständigen Kategorien. Offenbarung macht von natürlicher Vernunft Gebrauch und kann sogar darauf auf bauen. Was manchmal in den Grundsätzen Heiliger der Letzten Tage als „eine leise Stimme von vollkommener Milde,“ beschrieben wird, die fähig ist „bis tief in die Seele“ (Hel. 5:21-31) einzudringen, kann auch der Geist sein, der mit dem Sinn harmonisiert, um ein Gefühl „reiner Intelligenz“ oder „blitzartiger Gedanken“ zu erzeugen (LPJS, 127-129; 1963, 2. Auflg.) Somit ist es angebracht nach Offenbarung zu trachten und sich auf göttliche Kundgebungen via der Vermunft vorzubereiten: „Du mußt es mit deinem Verstand durcharbeiten; dann mußt du mich fragen, ob es recht ist“ (LuB 9:8).
Die Grundsätze der Heiligen der Letzten Tage fördern eine deutliche Offenheit betreffs der inneren- sowohl wie der instrumentalen Güte des Sinneslebens, eine Offenheit, die sich auf den Fortbestand des Menschen und das göttliche Reich basiert. Die volle durch Offenbarung gelenkte Nutzung menschlicher Vernunft wird unter den tugendhaften und lobenswerten Zielen Heiliger der Letzten Tage hoch eingestuft (GA 13). Die heiligen Schriften verheißen, „jeglicher Grundzug der Intelligenz, den wir uns in diesem Leben zu eigen machen, wird mit uns in der Auferstehung hervorkommen,“ und wer „mehr Wissen und Intelligenz“ durch „Eifer und Gehorsam“ erringt, wird „in der künftigen Welt um so viel im Vorteil sein“ (LuB 130:18-19). Dieser Nachdruck auf eine intellektuelle Entwickelung als Teil menschlichen Fortschritts hat nicht nur mit Göttlichkeit zu tun, sondern stimmt mit den wesentlichen Grundsätzen der Kirche und dem offiziellen Motto der Brigham Young Universität überein, nämlich, „die Herrlichkeit Gottes ist Intelligenz.” (LuB 93:36).
Intelligenz in ihrer Wesensart als „Licht und Wahrheit“ verlässt „jenen Bösen“(LuB 93:37). Sie kann nicht einfach mit normalen Intelligenzwerten in Betracht gezogen werden, geschweige mit der griechisch-philosophischen Idee einer reinen, unstofflichen und selbst-bestimmenden Intelligenz, ein Konzept welches auf die mittelalterliche Theologie großen Einfluss ausübte. Für Heilige der Letzten Tage ist das Erlangen von Intelligenz mit der Arbeit eine körperliche Welt zu gestalten und Familien und Generationen aneinander zu siegeln, unzertrennlich verbunden. Für sie sind „Die Elemente... ewig, und Geist und Element, untrennbar verbunden, empfangen eine Fülle der Freude“ (LuB 93:33). Gemäß der Lehre, „die Herrlichkeit Gottes ist Intelligenz,“ sollte man noch Gottes Kundgebung hinzufügen, nämlich, „dies ist mein Werk und meine Herrlichkeit – die Unsterblichkeit und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen“ (Mose 1:39).
BIBLIOGRAPHIE
Etienne Gilson's Reason and Revelation in the Middle Ages (New York, 1938) liefert eine ausgezeichnete Diskussion über die Ansichten des Thomas von Aquin. Der Gelehrte, Hugh W. Nibley, in "Educating the Saints" (in Nibley on the Timely and the Timeless, edited by T. Madsen, Provo, Utah, 1978), zitiert Auszüge des ehemaligen Kirchenpräsidenten Brigham Young, der intellektuelle Besserung als wesentlich für die Errettung des Einzelnen und dem Erstellen des Reiches Gottes betrachtete. Ein weiterer interessanter Versuch HLT Offenbarung mit dem Anhaltspunkten der vernuinft zu harmonisieren ist Parley P. Pratts Key to the Science of Theology (Salt Lake City, 1973). . Obwohl die unzulänglichen Kategorien der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ihn hinderten, wies Parley P. Pratt das eindeutige Potenzial eines ratsamen Dialogues zwischen religiöser Erkenntnis und wissenschaftlicher Deutung des Kosmos auf. Leo Strauss, in seinem „Jerusalem and Athens Some Preliminary Reflections” (in Studies in Platonic Political Philosophy, ed. T. Pangel, 147-73, Chicago, 1983), unterstreicht den Unterschied zwischen rationaler Ermittlung und frommen Gehorsams.
RALPH C. HANCOCK