Die Schriften der Heiligen der Letzten Tage bekräftigen, dass es eine christliche Pflicht ist, den Staatsgesetzen und der Regierung „Achtung und Unterordnung“ entgegenzubringen und das dies „von Gott zum Nutzen der Menschen eingerichtet wurde“ (LuB 134:1, 6). Die Heiligen der Letzten Tage messen der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika besondere Bedeutung zu. Sie glauben, dass der Herr „die Verfassung dieses Landes durch die Hand weiser Männer, die [er] zu eben diesem Zweck erweckt [hatte], [eingerichtet hat]“ (LuB 101: 80). Der Prophet Joseph Smith beschrieb sich selbt einst als „den größten Befürworter der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika auf dieser Erde“ (HC 6:56-57). Alle ihm nachfolgenden Präsidenten der Kirche beteuerten ebenfalls die Lehre einer inspirierten Verfassung. Diese beständige Befürwortung ist beachtenswert, da sich die grundlegenden Lehren der Kiche weit von den Prämissen des amerikanischen Liberalismus abheben. Die Heiligen der Letzten Tage litten, zum größten Teil als ein Ergebnis dieser Unterschiede, unter beträchtlichen Verfolgungen, bevor sie ein Übereinkommen mit der Allgemeinheit Amerikas erreichten.
Die Vorstellung einer inspirierten Verfassung findet sich nur selten im heutigen öffentlichen Diskurs und fehlt vollständig in der konstitutionellen und historischen Forschung. Das Streben danach, die Hand Gottes in den Anfängen Amerikas zu erkennen, war einst nicht nur in der populären Rhetorik verbreitet, sondern auch unter bedeutenden Historikern des 19. Jahrhunderts wie George Bancroft. Noch wichtiger ist die wiederholte Anerkennung göttlicher Hilfe durch die Gründerväter. George Washington äußerte häufig seine Dankbarkeit an Gott für die glücklichen Umstände, die den Aufstieg der Vereinigten Staaten begleiteten. Er wählte den Anlass seiner ersten Antrittsrede, um die gelungene Struktur der Verfassung zu würdigen: Kein Volk ist mehr verpflichtet die unsichtbare Hand, die die Angelegenheiten der Menschen leitet, anzuerkennen und zu verehren als das Volk der Vereinigten Staaten. Jeder Schritt, der sie an den Charakter einer unabhängigen Nation heranführte, scheint durch ein Zeichen glücklicher Fügung ausgezeichnet worden zu sein. Und in der bedeutenden Revolution, die gerade durch die vereinigte Regierung vollendet worden ist, können die friedvollen Vorsätze und die freiwillige Zustimmung so vieler verschiedener Gemeinden, auf die dieses Ereignis zurückzuführen ist, nicht mit den Mitteln verglichen werden, durch die die meisten Regierungen errichtet worden sind, ohne die Rückkehr zu frommer Dankbarkeit und der demütigen Erwartung zukünftiger Segnungen, welche die vergangenen Segnungen scheinbar vorausahnen lassen [W. Allen, ed., George Washington: A Collection, p. 461. Indianapolis, Ind., 1988].
Die Lehren und Offenbarungen der Kirche stehen im Einklang mit dem Selbstverständnis der Gründergeneration. Die Heiligen der Letzten Tage glauben, dass der Herr die Verfassung nicht durch die Vermittlung besonderer Maßnahmen durch Orakel einrichtete, sondern durch die Erweckung und Inspiration weiser Männer für diesen Zweck (LuB 101:80). Diese Betonung des außergewöhnlichen Charakters der amerikanischen Gründer,und der Gründergeneration im Allgemeinen, stimmt mit den Bewertungen von Zeitgenossen und späteren Studenten dieser Epoche überein. Thomas Jefferson, zu diesem Zeitpunkt Botschafter in Frankreich, beschrieb die Verfassungskonvention des Jahres 1787 als „eine Versammlung von Halbgöttern.“ Mehr als vierzig Jahre später schloss Alexis de Tocqueville, der berühmte französische Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, das amerikanische Volk als Ganzes in seinen Lobpreis auf die Gründung ein: Das, welches in der Geschichte der Gesellschaften neu ist, wird ein großartiges Volk sehen, gewarnt durch seine Gesetzgeber, das die Räder der Regierung anhalten. Wende seine Aufmerksamkeit sich selbst ohne Hast oder Angst zu, erklinge die Tiefe der Kranken und dann warte für zwei Jahre, um Hilfe müßig vorzufinden und letztendlich, wenn Hilfe angedeutet wurde, füge dich ihr freiwillig ohne dass sie der Menschheit eine einzige Träne oder einen einzigen Tropfen Blut kostet [Vol. 1, S. 113].
Die menschliche Weisheit der Gründer und der Gründergeneration vermittelt die göttliche Inspiration der Verfassung. Dieses Verständnis führt zu der Schlussfolgerung, dass neue Bedürfnisse und Umstände kontinuierliche, menschliche Weisheit von Staatsmännern und Bürgern erfordern. Kirchenführer haben erklärt (wie eindeutig durch ihre Anpassung im Falle der Sklaverei bewiesen und im Gegensatz zu neuzeitlichen Schriften; z.B. LuB 101:79), dass die Verfassung nicht in allen Einzelheiten vollkommen und vollständig ist, sondern Entwicklung und Anpassung unterliegt. Es war ein Teil der Weisheit der Gründer darauf zu verzichten, zu viele Entscheidungen zu treffen. Deshalb lieferten sie verfassungsmäßige Mittel für verfassungsrechtliche Gesetzesänderungen. Präsident Brigham Young erklärte, dass die Verfassung „ein fortschreitendes und allmähliches Werk darstellt“. Die Gründer „legten das Fundament und es war den folgenden Generationen überlassen den Überbau zu errichten“ (JD 7:13-15).
Wenn die Weisheit, die in der Verfassung verankert ist, als für zukünftige Entwicklungen offen betrachtet werden soll, muss sie als in der Vergangenheit verwurzelt verstanden werden. J. Reuben Clark Jr., der vielleicht genauste Kommentator der Verfassung unter den Kirchenführern, betonte die Abhängigkeit der Weisheit der Gründer von „der Weisheit der vielen Generationen, die vor ihnen waren. Deren Weisheit wurde durch Tradition und Geschichte zu den Gründern gesendet“ (1962, S. 3). Er betrachtete die Verfassung als ein Produkt des jahrhundertelangen Kampfes der Engländer für Autonomie. Diese historische Perspektive passt sehr gut mit dem Bericht des Buches Mormon zusammen. Diesem zufolge führte der Herr die Entdeckung, Kolonisation und den Kampf für die Unabhängigkeit Amerikas (1 Ne. 13:12-13), um es als ein „Land der Freiheit“ zu errichten (2 Ne. 10:11). Die Lehre der Heiligen der Letzten Tage unterscheidet sich von der traditionellen Sichtweise der Gründung. Hauptsächlich hält diese die Freiheit nicht nur für einen Segen, sondern auch für eine Bedingung für die Wiederherstellung der Fülle des Evangeliums Jesu Christi.
Die HLT Lehre über die Weisheit der Gründer erkennt bereitwillig an, dass deren Weisheit sowohl durch die Vergangenheit bestimmt wurde, als auch offen für die Zukunft ist. Es steht jedoch außer Frage die Verfassung vollständig auf ihre historischen Voraussetzungen zu reduzieren. Die Verfassung, die im Jahre 1787 erstellt wurde, verbleibt bis heute ein Prüfstein, da sie in einer zugegebenermaßen unvollkommenen Weise auf „die Rechte und [den] Schutz allen Fleisches aufgrund von gerechten und heiligen Grundsätzen“ (LuB 101:77) abzielt. Präsident David O. McKay bestätigte, dass „es einige wesentliche Grundsätze in dieser Republik gibt, die, wie ewige Wahrheiten, niemals aus der Mode geraten ... Dazu gehören die der Verfassung zugrunde liegenden, Grundsätze“ (S. 319).
Der Verweis der Schriften auf „gerechte und heilige Grundsätze“ scheint diese Grundlagen in gewissen „Rechten“ aufzufinden. Abschnitt 98 der Lehre und Bündnisse empfiehlt eine freundschaftliche Einstellung zum Grundgesetz, das auf der Harmonie zwischen der Freiheit unter dessen Gesetzen und der Freiheit unter Gott beruht (LuB 98:6, 8). In ähnlicher Weise verbindet Offenbarung menschliche „Rechte“ mit der Möglichkeit „ in der Lehre und dem Grundsätzlichen, was die Zukunft betrifft, gemäß der sittlichen Selbständigkeit [zu] handeln, die ich ihm gegeben habe, damit jedermann am Tag des Gerichts für seine Sünden selbst verantwortlich sei“ (LuB 101:78). Auf diese Weise ist die Verehrung der Verfassung durch die Heiligen der Letzten Tage in der grundlegenden Lehre der Entscheidungsfreiheit verankert oder dem Konzept, dass Gott den Fortschritt der Menschen zum ewigen Leben zum Teil dadurch ermöglicht, dass er sie den guten oder schlechten Konsequenzen ihrer Entscheidungen ausliefert. HLT Gelehrte untersuchten die Verfassung vom Standpunkt dieses grundlegenden Interesses an moralischer Freiheit. Sie zeigten deren Vebindung mit den wesentlichen Grundsätzen eines Rechtstaates (Reynolds, in Hillam) und der Gewaltenteilung (Hickman, in Hillam). Beide Konzepte stehen im Zusammenhang mit dem Ideal einer eingeschränkten Regierung.
Wenn „moralische Entscheidungsfreiheit“ im Zentrum der Lehre einer inspirierten Verfassung steht, dann könnte man sagen, dass die Kirchenlehre im 19. Jahrhundert die Entscheidungsfreiheit betonte, während Kirchenführer des 20. Jahrhunderts zunehmend das moralische Fundament der Verfassung hervorhoben. Damit wiederholten sie die Worte des Propheten Mosia2 im Buch Mormon: „Und wenn die Zeit kommt, da die Stimme des Volkes das Übeltun erwählt, dann ist es Zeit, dass die Strafgerichte Gottes über euch kommen“ (Mosia 29:26-27; Ether 2:8-12). Ihr Lob der Verfassung wurde oftmals mit den Warnungen gegen die Übel des Kommunismuses gepaart. Der Kommunismus ist ein politisches System, dass sich der Verfassung und moralischer Freiheit entgegenstellt.
Die Bindung der Heiligen der Letzten Tage an die Verfassung wurde außerdem durch eine wichtige, mündliche Tradition, welche sich von einer Aussage Joseph Smiths herleitete, gefördert. Diese besagte, dass die Verfassung „an einem seidenen Faden hinge“ und nur, wenn überhaupt, durch die Hilfe der Heiligen gerettet werden könnte. Präsident John Taylor schien diese Aussage zu erweitern, als er prophezeite: „Wenn das Volk die Verfassung der Vereinigten Staaten zerfetzt haben wird, werden die Ältesten Israels diese für die Nationen der Erde emporheben und Freiheit und Gleichheit für alle Menschen verkünden“ (JD 21:8). Es braucht mindestens die gleiche Weisheit, die die Grunderväter besaßen, um die Grundsätze der Verfassung unter Umständen, in denen das „Übeltun“ und der moralische Verfall der Gesellschaft diese in Fetzen zerissen haben, zu verteidigen. Im Besonderen verlangt es große Einsicht in die Beziehung zwischen Freiheit und Tugend in einer politischen Verkörperung moralischer Entscheidungsfreiheit.
BIBLIOGRAPHIE
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Vetterli, Richard. The Constitution by a Thread. Salt Lake City, 1967. Befürwortet eine Interpretation der Verfassung im Einklang mit den Grundlagen der „politischen und religiösen Philosophie der Kirche“ und im Gegensatz zu den Philosophien von Marx, Freud und den „neuen, liberalen Intelektuellen.“
RALPH C. HANCOCK