TOLERANZ
Der Grundsatz der Toleranz ist bei den Heiligen der Letzten Tage in der Lehre verwurzelt, dass alle, die gelebt haben, jetzt noch ebenfalls leben und noch auf dieser Erde leben werden Geistkinder Gottes sind und sich gegenüber Gott allein für ihren Glauben und ihre religiösen Praktiken verantworten müssen. „Wir beanspruchen das Recht, den Allmächtigen Gott zu verehren, wie es uns das eigene Gewissen gebietet“, heißt es im 11. Glaubensartikel, „und gestehen allen Menschen das gleiche Recht zu, mögen sie verehren, wie oder wo oder was sie wollen“.
Eine Folge dieser Aussage ist eine Glaubenserklärung in Bezug auf Regierungen und Gesetze, die 1835 von der Kirche übernommen wurde. Sie bestätigt, dass Regierungen keine Macht haben, Gesetze zur Gottesverehrung vorzuschreiben, um das Gewissen der Menschen zu verpflichten oder Formen öffentlicher oder privater Ergebenheit zu bestimmen. In religösen Angelegenheiten behauptet die Glaubenserklärung, dass „die Menschen ihm, und nur ihm, für die Ausübung derselben verantwortlich sind, sofern ihre religiösen Ansichten sie nicht dazu veranlassen, die Rechte anderer zu verletzen“ (LuB 134:4). Die Kirche hat diese Prinzipien aufrechterhalten und gleichzeitig weltlicher Autorität Raum gegeben: „Wir glauben, dass es recht ist, Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten“ (12. Glaubensartikel; vgl. LuB 134:1-12).
Damit verbunden ist eine Lehre ursprünglicher individueller Freiheit. Für Heilige der Letzten Tage ist die Entscheidungsfreiheit unzerstörbar. „Alle Wahrheit ist unabhängig in dem Bereich, worein Gott sie gestellt hat, und kann für sich selbst handeln, wie auch alle Intelligenz“ (LuB 93:30). Demgemäß kann und sollte der Freiheit des Einzelnen, nach dieser Wahrheit zu suchen, nicht zuwidergehandelt werden. Selbst Gott kann den Glauben nicht erzwingen. Die einzige Macht, die auf Erden oder im Himmel gerechtfertigt ist, dies zu tun, ist ungeheuchelte Liebe (LuB 121:41).
Intoleranz entsteht oft durch konfessionsgebundene Verurteilung [Überzeugungen]. Im Gegensatz zu Stereotypen ist die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage weder eine Sekte noch ein Kult. Sie basiert besonders stark auf den Schriften, hat jedoch keine formalisierten Glaubensbekenntnisse und keinen abgeschlossenen Kanon. Wie der Prophet Joseph Smith zu Stephen A. Douglas sagte, Heilige der Letzten Tage sind „bereit alle wahren, bestehenden Grundsätze zu glauben, so wie sie von Zeit zu Zeit kundgegeben werden“ (HC 5:215). Sie sind unterwiesen „alle guten und wahren Grundsätze in der Welt zu sammeln und [sie] wie einen Schatz zu bewahren“ (LPJS S. 316). In diesem inklusiven Sinne ist die Verpflichtung gegenüber Wahrheit eine Verpflichtung gegenüber der Sichtweise, dass alle Philosophien, Religionen und ethische Systeme Bestandteile der Wahrheit in sich haben und dass jeder einzelne Mensch einen Teil des Lichtes besitzt In weltweiter Hinsicht ist dies ein Strebepfeiler für Toleranz, Wohlwollen und Kameradschaft (siehe Welt Religionen [Nicht-Christlich] und Mormonismus). „Wenn ihr unsere Religion nicht begeistert annehmt“, sagte Joseph Smith, „dann macht euch unsere Gastfreundschaft zu eigen“ (WJS 162).
Der bedeutende Bedarf an Toleranz hat sich bei den Heiligen der Letzten Tagen durch die Schicksalsschläge, die Verfolgungen und die treibenden Kräfte ihrer eigenen Geschichte eingeprägt. An verschiedenen Orten in der Welt wurden ihnen manchmal Bürgerrechte und sogar Überlebensrechte vorenthalten.
Die Kirche blickt auf eine lange Geschichte der Duldsamkeit zurück. Der Prophet Joseph Smith vertrat die Ansicht, dass „derselbe Grundsatz, der die Rechte der Heiligen der Letzten Tage niedertrampelt auch die Rechte der Römisch Katholische Kirche, oder die einer jeder anderen Konfession niedertrampelt...Wenn es sich gezeigt hat, dass ich gewillt war, für einen Mormonen zu sterben, wage ich vor dem Himmel zu behaupten, dass ich genauso bereit bin, für einen Presbyterianer, einen Baptisten, oder für jemanden irgendeiner anderen Konfession zu sterben. Eine Liebe zur Freiheit inspiriert meine Seele, bürgerliche und religiöse Freiheit...“ Er fügte hinzu: „Wenn ich annehme, dass die Menschheit falsch liegt, soll ich sie darum unterdrücken? Nein, ich werde sie stützen, auch auf ihrem eigenen Weg, selbst wenn ich sie nicht davon überzeugen kann, dass mein Weg besser ist“ (LPJS, S. 313).
Innerhalb der Kirche haben sich zwei von Joseph Smith gelehrte Grundsätze durchgesetzt: „Ich lehre die Menschen rechte Grundsätze und sie regieren sich selbst“ (JD 10:57-58) und „dass ein Mensch sich in der Lehre irrt, beweist nicht, dass dieser Mensch kein guter Mensch ist“ (HC 5:340).
Heilige der Letzten Tage stehen heute der Herausforderung gegenüber, an einigen Orten der Welt eine religiöse Mehrheit und an anderen Orten eine Minderheit zu sein. Toleranz wird durch Bekehrte verstärkt, die aus verschiedenen religiösen und kulturellen Umständen kommen. Auch hundert- tausende von heimgekehrten Missionaren der Kirche, die schon früh in ihrem Leben die Sprachen, Gebräuche und religiösen Belange vielfacher Kulturen und Völker kennengelernt haben, tragen zu mehr Toleranz bei. Besonders heute, wo die Kirche in Lateinamerika, Asien und Afrika wächst, steht sie neuen Herausforderungen gegenüber, ihre Verpflichtung zu erfüllen, nämlich den Mitmenschen Toleranz und Wohlwollen entgegenzubringen.
BIBLIOGRAPHIE
Hunter, Howard W. “All Are Alike Unto God.” In Devotional Speeches of the Year, 1989, pp. 32-36. Provo, Utah.
GEORGE ROMNEY