SINN DES ERDENLEBENS
[Dieser Eintrag setzt sich aus zwei Artikeln zusammen: HLT Perspektive behandelt, was Heilige der Letzten Tage als Zweck des Lebens verstehen. Vergleichende Perspektiven stellt das Verständnis der HLT dem der großen Weltreligionen gegenüber.]
PERSPEKTIVE DER HLT
Heilige der Letzten Tage erklären den Sinn des Lebens anhand von drei Fragen: (1) Woher kommen wir? (2) Warum sind wir hier? (3) Was erwartet uns hiernach? Die Schriften versichern in diesem Zusammenhang, dass die Seele ewig ist und die Erde als ein Ort für die Familie Gottes erschaffen wurde.
Alle Männer und Frauen haben als Geister in einem vorirdischen Zustand gelebt. Alle sind geistige Nachkommen Gottes (Abraham 3:21-22). In dieser Welt wurde die gesamte Familie Gottes über seine Pläne und Absichten belehrt. „Bei der ersten Organisierung im Himmel waren wir alle anwesend. Wir sahen wie der Erretter auserwählt und berufen wurde, wie der Plan der Erlösung erstellt wurde und gaben unsere Zustimmung“ (LPJS, S. 181). Alle Geistkinder Gottes entwickelten verschiedene Stufen von Intelligenz und Reife. Diejenigen, die freiwillig die Umstände der Sterblichkeit erfahren wollten, empfingen einen Körper und das Licht Christi, „das jedem Menschen leuchtet, der in die Welt kommt“ (LuB 93:2). Damit das Erdenleben eine Bewährung sein würde, wurde vor das frühere Leben ein Schleier des Vergessens gezogen.
In der Sterblichkeit erfüllen sich für die Menschen mindestens sechs Zwecke:
1. Sie empfangen einen Körper, sammeln Erfahrungen und werden alt. Schließlich werden sie auferstehen. Das alles ist für die Vervollkommnung der Seele von wesentlicher Bedeutung. „Wir kamen auf diese Erde, um einen Körper zu empfangen und ihn in Reinheit vor dem Herrn in der Celestialen Herrlichkeit zeigen zu können“ (LPJS, S. 181; siehe Physischer Körper; Auferstehung).
2. Sie nehmen im Wissen zu und entwickeln Talente und Fähigkeiten (siehe Intelligenz). „Wenn du dorthin gelangen möchtest, wo Gott ist, musst du so sein wie Gott, oder die Prinzipien besitzen, die er besitzt, denn wenn wir uns Gott nicht grundsätzlich nähern, ziehen wir uns von ihm zurück, hin zum Teufel“ (LPJS, S. 216).
3. Sie werden geprüft und getestet, „Wir werden sie hierdurch prüfen“, heißt es in den Aufzeichnungen Abrahams, „und sehen, ob sie alles tun werden, was auch immer der Herr, ihr Gott, ihnen gebietet“ (Abraham 3:25). In der Sterblichkeit erfährt man Kontraste und Gegensätze – Gesundheit und Krankheit, Freude und Traurigkeit, Segnungen und Herausforderungen – und kommt so zur Erkenntnis, dass man das Gute schätzen muss. „Adam fiel, damit Menschen sein können, und Menschen sind, damit sie Freude haben können“ (hier ist ein Fehler in der Englischen Version - Nicht Vers 23, sondern 25! 2 Nephi 2:25). Eine solche Freude, schrieb Elder B. H. Roberts von den Siebzigern, kann nur kommen, wenn „sie bis in die Tiefen der Seele dringt, wenn man alle Emotionen, für die der Verstand empfänglich ist, erfährt und alle Beschaffenheiten sowie die Kraft des Intellekts erprobt“ (Roberts, S. 439; siehe Freude; Sterblichkeit; Leiden in der Welt).
4. Sie erfüllen Missionen und nehmen Berufungen an, die übertragen oder vorherordiniert wurden (siehe Vorherordinierung; Vorirdisches Leben). Heilige der Letzten Tage bezeichnen das Erdenleben oft als einen zweiten Stand und spielen auf die Verheißung an, die an und durch Abraham gegeben wurde, denn „diejenigen, die sich ihren zweiten Stand bewahren [z.B. die Zwecke der Sterblichkeit erfüllen], werden Herrlichkeit auf ihr Haupt hinzugefügt bekommen für immer und immer“ (Abraham 3:26).
5. Sie üben Entscheidungsfreiheit aus ohne sich an die vorirdische Existenz zu erinnern. „Sie gehen im Glauben vorwärts“ und erneuern und bestätigen Realitäten, die sie in der Geisterwelt freudig erwartet hatten“ (siehe Entscheidungsfreiheit; Glaube).
6. Sie stellen die Grundlagen ewiger Familienbeziehungen her, erst als Söhne und Töchter, später als Väter und Mütter. Die vereinigte Familie ist der Inbegriff eines erfüllten und heiligen Lebens (siehe Ehe: Ewige).
Das kommende Leben ist die Erweiterung und Erfüllung des Weilens in der Sterblichkeit: in die Gegenwart Gottes einzutreten und für immer dort zu bleiben. Jedoch enden mit dem Tod weder die Bewährung, noch die Gelegenheiten, die Wahrheiten und Macht Christi zu hören, anzunehmen und anzuwenden. Tatsächlich lehrte Joseph Smith, dass sogar die Gläubigen „nicht alles in dieser Welt verstehen werden können; es wird ein großes Werk sein, unsere Erlösung und Erhöhung sogar über das Grab hinaus zu erfahren“ (LPJS, S. 348). Er fügte hinzu, dass der Prozess ein wenig behindert wird, wenn der Geist vom Körper getrennt ist. Daher ist es wichtig, die Zeit, während wir in der Sterblichkeit sind, für unsere Erlösung zu nutzen und nicht dazu zu gebrauchen, unsere Umkehr aufzuschieben.
Bei alledem wird der Zusammenhang des vorherigen Lebens mit diesem Leben, andererseits dieses Lebens mit dem Nächsten, klar und deutlich gelehrt. Die Tendenz vieler östlicher und westlicher Religionen, das Leben in zwei Welten zu unterteilen und zu glauben, dass diese völlig verschieden und unterschiedlich sind, ist falsch. Das Leben ist Veränderung, Verwandlung und Erhöhung. Die Sterblichkeit ist eine Generalprobe für die nächste Welt. Dort werden Licht, Herrlichkeit und Herrschaft in Fülle auf diejenigen übertragen, die die Worte des ewigen Lebens in dieser Welt erfüllt haben und daher auf das ewige Leben in der kommenden Welt vorbereitet sind.
BIBLIOGRAPHIE
Roberts, B. H. “Modern Revelation Challenges Wisdom of Ages to Produce More Comprehensive Conception of the Philosophy of Life.” Liahona the Elders’ Journal 20 (May 8, 1923):433-39.
JAMES P. BELL
VERGLEICHENDE PERSPEKTIVEN
Religionen tendieren dazu, das Leben als bedeutungsvoll darzustellen, wenn es mit einem kosmischen Plan übereinstimmt – einem Plan, der entweder absichtlich von Gott eingerichtet wurde, oder in der Natur des Kosmos begründet liegt, der einen göttlichen Ursprung hat. Für Heilige der Letzten Tage ist der göttlich geordnete Kosmos der wesentliche Inhalt aller Schrift. In diesem Zusammenhang bekräftigen die Schriften der Heiligen der Letzten Tage die zusammenhängenden Leitmotive, die von entscheidender Bedeutung sind: ein physischer Körper, Prüfungen, die Erfahrung von Gegensätzen, die Ewigkeit der Familie und die Vision von Freude und gottgleicher Herrlichkeit (siehe Zweck des Erdenlebens: Perspektive der HLT).
Alternative Ansichten bewegen sich in zwei Richtungen. Einige glauben, dass das Leben keine Bedeutung hätte, wenn es keinen Gott gäbe und dass das ultimative Ende des Lebens aller Menschen eine individuelle Vernichtung wäre. Das ist beispielsweise die Einstellung von Arthur Schopenhauer. Existenzialisten, die generell behaupten, dass Menschen in einem gottlosen und sachlich absurden Universum ihre eigene Bedeutung schaffen, nehmen eine ähnliche Haltung ein. Andere, einschließlich einiger Naturalisten und Humanisten, meinen, dass das Leben sogar dann lebenswert ist, wenn die Behauptungen einer übernatürlichen Religion falsch sind. Marxisten glauben beispielsweise, dass eine zweckbestimmte Gesellschaft, wenn nicht ein bedeutungsvoller Kosmos, sich durch den unaufhaltsamen Verlauf der Geschichte zu einer sachlichen Einheit entwickelt.
Einige Denker behaupten, dass das Leben einen Zweck hat, sogar wenn dieser Zweck geheimnisumwoben ist. Der Hedonismus bekräftigt, dass Fragen nach ultimativer Bedeutung nicht beantwortet werden können und daher zugunsten von maximalem Vergnügen und minimalem Schmerz ignoriert werden sollten. Der Konfuzianismus tendiert dazu, nicht über dieses Thema zu sprechen. Er bestätigt die Existenz einer geistigen Ordnung, die vor und über der sozialen Ordnung steht, sich aber auf Angelegenheiten solch weltlicher Art konzentriert. Einige Abspaltungen des Judentums haben dieselbe Betrachtungsweise. Sie glauben, dass das kommende Leben von zweitrangiger Bedeutung ist. Wichtiger ist die Aufgabe, in dieser Welt eine geheiligte Gemeinschaft aufzubauen und aufrechtzuerhalten und nach einem Tag Ausschau zu halten, wenn durch die Worte eines ehrwürdigen hebräischen Gebets „die Welt unter der Herrschaft des Allmächtigen vollkommen gemacht wird“.
Heilige der Letzten Tage sehen das Leben als einen dreistufigen Prozess – eine vorirdische, sterbliche und postmortale Existenz. Alle Stufen sind für die eigene Entfaltung und Vervollkommnung notwendig. Dies ist das Werk und die Herrlichkeit Gottes. Den Prozess kann man sowohl als wahrnehmbar als auch als übersinnlich beschreiben (siehe Gott: Werk und Herrlichkeit von; Sterblichkeit; Vorirdisches Dasein; Auferstehung).
Platons „Höhlengleichnis“ veranschaulicht den Zustand des Menschen als Gefangenschaft. Der Mensch wird von falschen Überzeugungen und Illusionen festgebunden, welche der wahre Philosoph zu überwinden beabsichtigt. Im Phaidon argumentiert Sokrates, dass der Philosph „immer nach dem Tod und dem Sterben strebt“. Ein weiser Mann sehnt sich nach der Trennung seiner Seele von seinem Körper, nach Freiheit von Krankheit, Müdigkeit und Sinnestäuschungen und nach der Entlassung in ein Reich intuitiven Nachsinnens. Der Gnostizismus, eine Bewegung, die an Platon erinnert, teilt die Auffassung vom Fall und dem erhofften Fortschritt einer göttlichen Seele, leugnet aber gelegentlich die Güte des physischen Universums und der Gottheit, die es erschaffen hat. Im 13. Jahrhundert gab Thomas von Aquin eine klassische Kundgebung zur Position der Katholischen Kirche. Darin hieß es, das sogar in dieser materialistischen Welt das größte Ziel des Menschen das „gedankenvolle Leben“ sei, welches nach dem Tod perfekt gemacht wird. Die Glückseligkeit der Heiligen wird aus einem intellektuellen „Sehen“ des göttlichen Wesens bestehen, wobei es sich nicht um das Sehvermögen des Auges, sondern um das des Verstandes handelt. Schriften der Heiligen der Letzten Tage bekräftigen sowohl das Leben von Intelligenz, was als Licht und Wahrheit definiert wird, als auch die Erlösung der Seele, die als Geist und Körper vereint definiert wird. Der Zweck des Lebens ist keine Flucht, sondern eine Verwandlung des Menschen, der Gemeinschaft und des Kosmos.
In den großen religiösen Brauchtümern Ost- und Südasiens spielt Gott (oder die Götter) manchmal eine nebensächliche Rolle. Der Hinduismus lehrt, dass die tiefsten Wünsche des Menschen die Unendlichkeit, unendliches Dasein, Wissen und Freude sind. Daher muss man nach Mukti trachten, der Befreiung von der Endlichkeit und den Einschränkungen, die scheinbar dem natürlichem Zustand der Menschheit entsprechen. Das Wort „scheinbar“ ist von entscheidender Bedeutung, weil der Hinduismus steif und fest behauptet, dass sich Brahman und Atman, die Gottheit selbst, hinter individuellen und endlichen Personen verbirgt. Männer und Frauen sind bereits endlich. Befreiung besteht einfach – obwohl es nicht wirklich einfach ist! – darin, dass man diese Tatsache anerkennt. Der Buddhismus, der hinduistische Wurzeln hat und oft als eine Art Reformation der älteren Religion betrachtet wird, stimmt notwendigerweise in dem Befund des Zustands des Menschen überein, obwohl sich die nicht theistischen Formen des Buddhismus in der Art und Weise wie sie die Natur des Menschen erklären unterscheiden. Buddha (der Titel kommt von einem Wort, das etwa so viel bedeutet wie „erleuchtet“) glaubte, dass das grundlegende Problem des Menschen ein Verlangen sei sich abzutrennen und dass der Zweck des Lebens die Auslöschung dieses Verlangens sei. Somit sind Männer und Frauen fähig, in diesem Leben ,oder einer Serie von Leben, die selbstsüchtigen Begierden zu überwinden, die die Hauptquelle ihrer Leiden und ihres Wehklagens sind. Heilige der Letzten Tage glauben weder an die Wiedergeburt noch an die Theorie, dass das menschliche Leiden eine Illusion sei (siehe Wiedergeburt; Leid in der Welt).
Die Auffassung, dass die Befreiung der Seele der Zweck des Lebens ist, empfinden die Relegionen des Abrahamischen Brauchtums, einschließlich der der Heiligen der Letzten Tage, als unangenehm. Dabei ist diese Auffassung selten, wenn überhaupt, ein dominierendes Denkmuster geworden. Die Aussage der Hebräischen Schriften, dass Gott die kosmische Materie „gut“ genannt hat, ist normal geblieben. Aus diesem und anderen Gründen vertreten der jüdische, der traditionell christliche, der moslemische Gedanke und der der Heiligen der Letzten Tage die Ansicht, dass der höchste, gute Gott direkt für die allgemeine Situation verantwortlich ist, in der sich menschliche Wesen befinden. Jedoch betont kein Brauchtum stärker als das der Heiligen der Letzten Tage, dass jeder einzelne sich den Bedingungen der Sterblichkeit „freiwillig unterzogen“ hat (LPJS, S. 325; vgl. LuB 93:30-31; siehe auch Theodizee). Heilige der Letzten Tage stimmen ebenfalls zu, dass eine letztendliche Vereinigung mit Gott keinen Verlust endlicher, individueller Identität, sondern eine Beziehung zu ihm andeutet.
Eine überzeugende Ansicht der Christen kommt im kleinen Westminster Katechismus von 1647 zum Ausdruck, welcher erklärt, dass „das Hauptziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und für immer seine Gegenwart zu genießen“. Gott erschuf uns, um sich selbst zu verherrlichen. Dies hat nichts mit Eitelkeit seinerseits zu tun, da er diese Herrlichkeit im Gegensatz zu den Menschen vollends verdient. Außerdem wird er diejenigen, die er errettet, mit seiner Gegenwart entlohnen. Dies kann man mit der Ansicht des Islamischen Brauchtums vergleichen, gemäß der Gott sprach: „Ich war ein verborgener Schatz, doch wünschte ich offenbar zu sein und deshalb erschuf ich die Erde“. Im Islam ist daher das Ziel der Menschen, sich selbst dem Willen Gottes zu unterwerfen (aslama) und ihn durch ihre Werke zu verherrlichen. Sowohl das Judentum als auch der Islam betonen das Gesetz, rechtmäßiges Verhalten, und erklären Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes als Zweck des Lebens. Das Judentum unterscheidet sich jedoch vom Islam in dem Glauben, dass die gesamte Fülle der göttlichen Gebote (mitzvoth) nur Juden obliegen, wobei Nichtjuden den wenigen grundlegenden „Noachischen Prinzipien“ unterliegen. Der Islam hingegen besteht darauf, dass Gottes Ansprüche für alle Menschen gleich sind. „Ich habe nicht das Dschinn und die Menschheit erschaffen“, wird Allah im Koran zitiert, als würde er sagen „außer, um mir zu dienen“.
Einige protestantische Denker haben bestätigt, dass Menschen existieren, damit göttliche Eigenschaften offenbar werden und um in ihren eigenen unvollkommenen Leben einen Teil der Herrlichkeit Gottes zu verkörpern. Eine ähnliche Betrachtungsweise kommt in der Aussage des Katholischen Katechismus von Baltimore vor, nämlich dass „Gott uns gemacht hat, um seine Güte zum Ausdruck zu bringen und mit uns seine immerwährende Glückseligkeit im Himmel zu teilen“. Schriften der Heiligen der Letzten Tage bestätigen, dass Gott nicht nur seine Gaben und Seligkeit teilen wird, sondern auch seine göttliche Natur (siehe Vergöttlichung). Katholische und Protestantische Formen des Christentums trennen sich allerdings voneinander. Katholiken sind überzeugt, dass Gottes Ziele für die Menschheit idealerweise in einem Leben mit Sakramenten und liturgischem Gottesdienst realisiert werden, wobei Protestanten die Akzeptierung der freien Gnade Christi betonen. Heilige der Letzten Tage bestätigen, dass ein heiliges Leben ohne Zugriff auf die Gnade Christi unmöglich ist. Man entscheidet sich freiwillig gegenüber göttlich gegebenen Geboten, Gesetzen und Verordnungen gehorsam zu sein, worin sich das Sühnopfer und die Gnade Christi manifestieren. Dann gibt man sich selbst und seine ganze Seele der Jüngerschaft hin.
BIBLIOGRAPHIE
Palmer, Spencer J., and Roger R. Keller. Religions of the World: A Latter-day Saint View. Provo, Utah, 1989.
Romney, Thomas C. World Religions in the Light of Mormonism. Independence, Mo., 1946.
DANIEL C. PETERSON
HUSTON SMITH