Im normalen Sprachgebrauch bedeutet das Wort „Sekte“ eine jegliche Gruppe an Nachfolgern oder Anhängern. Dies reicht von den Hauptreligionen der Welt bis zu kleinen Splittergruppen. „Sekte“ kommt vom lateinischen sequi, folgen. In der soziologischen Terminologie ist eine Sekte eine getrennt organisierte religiöse Gruppe, die bestimmte Kriterien erfüllt. Genau genommen ist dieser Ausdruck dann für die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage nicht angemessen.
Sozialwissenschaftler definieren drei Kriterien als ausschlaggebend, um festzustellen, ob eine religiöse Gruppe eine Sekte ist: (1) Eine Sekte ist einfach aufgebaut. (2) Eine Sekte steht in einem sehr gespannten Verhältnis zur vorherrschenden Gesellschaft (typischerweise weil Sektenmitglieder sich als „glaubenstreuen Überrest“ der reinen Religion ansehen, die von der Gesellschaft zurückgewiesen wurde). Und (3) eine Sekte sieht sich als allein berechtigt, die einzige Quelle der Erlösung. Es ist nicht immer einfach diese Kriterien auf die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anzuwenden. Im Lichte dieser Faktoren ist das Ausmaß der organisatorischen Struktur der HLT-Kirche offensichtlich komplex und international. Während im neunzehnten Jahrhundert der feste Vorsatz, ein buchstäbliches politisches und wirtschaftliches Reich aufzubauen, und das Praktizieren der Vielehe die HLT-Kirche in ein Spannungsverhältnis zu der weitgeordneteren Gesellschaft, in der die Heiligen lebten, setzte, kennzeichnet, gesellschaftlich gesehen, keine der beiden Praktiken die Kirche im zwanzigsten Jahrhundert. In Wirklichkeit hat die Kirche immer schon viele Wertvorstellungen, die auch im Mittelpunkt des vorherrschenden Wertsystems der Vereinigten Staaten und anderer Gastgeberländer stehen, angenommen. Dazu gehört die Betonung auf Familie, harte Arbeit und Landestreue. Trotzdem besteht immer noch ein gemäßigtes Spannungsverhältnis wegen des Anspruchs der Kirche auf alleinige Legitimität.
„Kirchen“ und „Glaubensrichtungen“ unterscheiden sich in der soziologischen Terminologie von Sekten darin, dass erstere komplex organisiert sind und eine positive Beziehung zur Gesellschaft haben. Glaubensrichtungen akzeptieren die Legitimitätsansprüche anderer Religionsgruppen, während Kirchen dies nicht tun (Roberts, S. 181-202). Das Klassifizieren der Kirche Jesu Christ der Heiligen der Letzten Tage gemäß dieser Typenlehre wirft mehrere Probleme auf. Ihr Anspruch auf alleinige Rechtmäßigkeit macht sie zu etwas anderem als einer Glaubensrichtung, während ihr Mangel an gesellschaftlicher Vorherrschaft sie zu etwas anderem als einer Kirche macht (außer in Utah und an bestimmten anderen Orten).
Um ähnlich unklare Fälle zu erklären, haben Soziologen eine zusätzliche Klassifizierung entwickelt—die „etablierte Sekte“ (Yinger, S. 266-73). Eine etablierte Sekte ist organisatorisch komplex, aber steht immer noch in einem gemäßigten Spannungsverhältnis zur Gesellschaft und behält den Anspruch auf alleinige Rechtmäßigkeit. Während die HLT-Kirche diese Kriterien erfüllt, argumentieren Sozialwissenschaftler zunehmend, dass sie von konventionellen religiösen Traditionen genug abweicht, um eine darüber hinauszielende Klassifizierung außerhalb der Kirchen-Glaubensrichtung-Typologie zu rechtfertigen. Sie argumentieren, dass der Ausdruck „neue Religion“ vielleicht am besten passt und dass der moderne Mormonismus kurz davor steht, eine bedeutende neue Weltreligion zu werden (Stark, S. 11-12).
[Siehe auch Kult.]
BIBLIOGRAPHIE
Roberts, Keith A. Religion in Sociological Perspective, 2. Ausg. Belmont, Calif., 1990.
Stark, Rodney. „How New Religions Succeed: A Theoretical Model“. In The Future of New Religious Movements, Hg. D. Bromley and P. Hammond, S. 11-29. Macon, Ga., 1987.
Yinger, J. Milton. The Scientific Study of Religion. New York, 1970.
LAWRENCE A. YOUNG