Da sich die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage des Bedarf nach Diensten für seelische Gesundheit bewusst ist, unterhält sie, wie andere religiöse Organisationen auch, durch die LDS Social Services ein Netzwerk von Agenturen. Diese bieten je nach Bedarf entweder eine befristete Behandlung oder im Falle einer erforderlichen umfassenden Behandlung Vermittlungsdienste an. Die Kirche befürwortet die Arbeit durch zugelassene Psychologen und Psychiater, um sicherzustellen, dass die angebotenen Vorschläge und Behandlungen mit der Moral der Kirche und den Erwartungen für den Lebensstil in Einklang stehen.
Früher haben Kritiker viele geistige Leiden von Mitgliedern dem Einfluss der Kirche zugeschrieben. Heute hört man manchmal die Behauptung, dass Heilige der Letzte Tage als Folge ihrer Religion hohe Raten bezüglich Scheidungen, Drogenmissbrauch, Depression und Selbstmord aufweisen. Dies ist nicht verwunderlich, da neuen und andersartigen Führern oft Klischees angehängt werden. Nahezu identische Schwächen sind Juden, Indianern, Römisch-Katholischen, Iren und anderen Gruppen zugeordnet worden (Bunker und Bitton; Bromley und Shupe). Forschungsergebnisse zeigen jedoch keine Belege für psychologische oder soziale Probleme unter Heiligen der Letzten Tage.
Nationale Statistiken zeigen, dass Utah mit einem HLT-Anteil von 70 Prozent niedrigere Raten an geistigen Störungen oder Suchtverhalten aufweist als der US-Durchschnitt. Ein Bericht des Nationalen Instituts für Geistige Gesundheit (National Institute of Mental Health) für 1986 platzierte Utah gemessen am Bevölkerungsanteil an zweitunterste Stelle für Aufnahmen in psychiatrische Kliniken. Der Bericht der Nationalen Vereinigung von Direktoren psychiatrischer Programme (National Association of State Mental Health Program Directors) für 1986 zeigte, dass in Utah die Rate an außerstationär behandelten mentalen Fälle pro Million Bevölkerung niedriger war als in 36 anderen Staaten. Diese Berichte zeigen außerdem eine unterdurchschnittliche Rate an Alkohol- und Drogenmissbrauch. Dies wird auch in Utah in Demographic Perspective (1986) bestätigt. Dieser Bericht verweist auf Utah als den Staat mit dem geringsten Alkoholkonsum pro Kopf. Aus 100.000 Menschen ist jeder 35. Alkoholiker. Der Drogenmissbrauch unter Erwachsenen ist in Vergleich mit dem nationalen Durchschnitt niedrig. Die übergreifende Sterberate für Selbstmord liegt leicht über dem nationalen Durchschnitt, aber leicht unter dem der Rocky Mountain Staaten.
Ein Vergleich von HLT-Studenten an der Brigham Young Universität mit Studenten anderer Schulen über psychologische Standardmaße (so wie die Minnesota Multiphasic Personality Inventory) zeigt mehr Gleichheiten als Unterschiede auf. BYU Studenten rangieren bei anerkannten Indikatoren für seelische Gesundheit normal. Studien über Scheidungsraten zeigen, dass die Landkreise mit dem höchsten Anteil an Heiligen der Letzten Tage die niedrigsten Scheidungsraten haben und bedeutend unter dem nationalen Durchschnitt liegen. Studien über Depressionen unter BYU Studenten und zurückgekehrten Missionaren zeigen durchschnittliche oder niedrigere Levels.
Depressionsstudien unter Frauen in drei städtischen Gegenden in Utah ergaben, dass HLT-Frauen nicht stärker oder geringer unter Depressionen litten als ihre nicht-mormonischen Gegenpartnerinnen. Zum Beispiel wurden mit dem Beck Depressions Inventar keine Unterschiede zwischen HLT-Frauen und anderen Frauen im Salzseetal gefunden (Spendlove, West und Stanish). Frauen, die aktiver in der HLT-Kirche waren, waren weniger depressiv als weniger aktive Frauen, jedoch konnten keine eindeutigen kausalen Verbindungen zu Kirchenaktivität hergestellt werden. Der Ausbildungsgrad erschien als besserer Prädiktor für das Depressionsausmaß als die religiöse Zugehörigkeit: Die besser Ausgebildeten waren weniger depressiv. Antworten auf einen nationalen Fragenbogen stellten HLT-Frauen in Vergleich zu anderen Gruppen im mittleren Rang bezüglich Depressionen dar. LDS-Männer erzielten in jeder Gruppe die niedrigste Trefferzahl für Depressionen (Bergin und Cornwall).
Insgesamt sind die Heiligen der Letzte Tage im Durchschnitt psychologisch normal. Sie weisen keine ungewöhnlichen Raten oder Arten geistiger Störungen auf und sie weichen nicht stark vom nationalen Normativmuster ab. In manchen Studien zeigen sie weniger Krankheiten, aber die Ergebnisse lassen sich aufgrund der Natur der befragten Bevölkerung in Frage stellen. Die Statistiken für Utah erscheinen im nationalen Durchschnitt oft deshalb besser, da der Staat nur wenig Minderheiten und ärmere Bevölkerung aufweist. Staaten mit einer ähnlichen demographischen Struktur, so wie Wyoming, Idaho und Dakota, haben ähnliche statistische Vorteile.
Für die breite Masse der Mittelschicht ist konfessionelle Zugehörigkeit in Bezug auf Schwankungen der geistigen Gesundheit weniger relevant als Familienhintergrund, Ausbildungsgrad, soziale Schicht, Familienstand und intrinsische versus extrinsische religiöse Orientierung. Allgemeine Erkenntnisse verdunkeln beträchtliche individuelle Schwankungen, da man auf unterschiedliche Art religiös sein kann. „Intrinsische“ religiöse Personen, die persönlichen Überzeugungen treu sind und nicht auf Religion als einen Halt angewiesen sind, erweisen eine bessere seelische Gesundheit als die „extrinsisch“ Religiösen, die sich auf das äußere Drum und Dran konzentrieren, ein religiöses oder „rechtschaffenes“ Image aufrecht zu erhalten. Solche Schwankungen treten unter Heiligen der Letzten Tage sowie unter anderen Gruppen auf. Die Beziehung zwischen Religiosität und Pathologie ist also komplex. Wie konkret Konfessionen das seelische Funktionieren verbessern oder aushöhlen ist momentan noch eine Frage der Spekulation und Kontroverse.
Die Kultur und der Lebensstil der Heiligen der Letzten Tage offenbaren eine interessante Kombination positiver und negativer Einflüsse auf das seelische Funktionieren. Diese mögen einander aufwiegen und ein normales Durchschnittsprofil bilden. Einige mögliche negative Einflüsse beinhalten Neigungen zu Perfektionismus und Selbstverneinung, die unweigerlich das Versagen begleiten, unsinngig hohe Erwartungen zu erfüllen. Schlechte Gefühle werden nicht gerne zum Ausdruck gebracht, was Konfliktlösungen oft stark erschwert. Die HLT-Subkulturen sind sehr „gruppenorientiert“. Zahlreiche Organisationen und Aktivitäten definieren und bekräftigen die Lebensweise. Menschen, die „außer der Reihe tanzen“, können leicht erkannt werden. Übereinstimmung hingegen wird wertgeschätzt. Individualität und Selbstdarstellung können zu einem gewissen Grad abgemildert werden, während Gehorsam gegenüber Autorität ermutigt wird.
Theoretisch können diese negativen Aspekte durch Wärme und soziale Unterstützung durch ein zusammenhaltendes und fürsorgliches soziales Netzwerk ausgeglichen werden. Dieses zeichnet sich durch eine starke Betonung auf Familienbindung und aktive Teilnahme an einem vielfältigen System solzialer, religiöser, sportlicher und kultureller Aktivitäten aus. Während Mitglieder darüber verzweifeln mögen, dass sie zu viel zu tun haben, können sie immer verständnisvolle Ebenbürtige finden. Eine positive Philosphie der menschlichen Natur und das ewige Potenzial der Menschen rufen Hoffnung hervor.
Die HLT-Philosophie ist wachstumsorientiert, Selbstverbesserung wird also kontinuierlich ermutigt. Probleme treten dann auf, wenn in dem Prozess nicht genug Toleranz gegenüber menschlicher Unvollkommenheit geübt wird. Wenn man Tugenden wie Selbstaufopferung, Selbstbeherrschung und harte Arbeit übertreibt, fordern sie ihren Zoll. Wenn man sie jedoch mit Selbstreflexion und einvernehmlicher Unterstützung balanciert, können sie einen Menschen zum Wachstum stimulieren.
Bei der Etablierung als institutioneller Partner in humaner Zivilisation sind der Kirche einige Wachstumsschmerzen widerfahren. Zu einer neuen Gruppe zu gehören, bedeutet immer Unischerheit; diese weicht nur langsam der Sicherheit, die mit dem Erreichen einer etablierten Einheit in einem gemeinsamen Unternehmen kultureller Evolution verbunden ist. Im Verlauf des Prozesses ist diese Belastung zugunsten einer ausgeglichenen Subkultur, die mit anderen etablierten Gruppen vergleichbar ist, gewichen.
BIBLIOGRAPHIE
Bergin, Allen E., and Marie Cornwall. "Religion and Mental Health: Mormons and Other Groups." Annual Meeting of the Society for the Scientific Study of Religion. Salt Lake City, 1989.
Bromley, David G., and Anson Shupe. "Public Reaction Against New Religious Groups." In Cults and New Religious Movements, ed. M. Galanter. Washington, D.C., 1989.
Bunker, Gary L., and Davis Bitton. The Mormon Graphic Image, 1834 -1914. Salt Lake City, 1983.
Martin, Thomas K.; Tim B. Heaton; and Stephen J. Bahr, eds. Utah in Demographic Perspective. Salt Lake City, 1986.
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Spendlove, David; Dee West; and William Stanish. "Risk Factors and the Prevalence of Depression in Mormon Women." Social Science and Medicine 18 (1984):491-95.
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ALLEN E. BERGIN