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POLYGAMIE

[Dieser Eintrag besteht aus vier Artikeln: Polygamie, Mehrehe, Anti-Polygamie Gesetze und Das Manifest von 1890.]

POLYGAMIE

[Den Hauptbeitrag zu diesem Thema finden Sie unter MEHREHE. Unter der Unterweisung des Propheten Joseph Smith begannen einige Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage die Mehrehe, die auch als “Celestiale Ehe” bezeichnet wird, zu praktizieren. Man sah diese Ehe als göttliches Gebot an, um (Jakob 2:30). Die Offenbarung Gottes betreffs der ewigen Ehe steht in LuB 132. (Siehe Lehre und Bündnisse, Abschnitt 131 und 132.) Abschnitt 132 warnt auch gegen Untreue in der Ehe.

Information über die Opposition zur Polygamie der Mormonen seitens der Bundesregierung und der Öffentlichkeit finden Sie in den Beiträgen MEHREHE, GESETZGEBUNG GEGEN DIE MEHREHE; RECHTSGESCHICHTE DER KIRCHE und REYNOLDS GEGEN DIE VEREINIGTEN STAATEN.

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gab die Mehrehe 1890 offiziell auf. (Siehe MANIFEST, DAS MANIFEST VON 1890).

Einige abtrünnige Gruppen haben die Offenbarung Gottes an Wilford Woodruff, dem vierten Präsidenten der Kirche, aufgrund derer die Kirche die Mehrehe aufgab, nicht anerkannt. Sie praktizieren daher die Mehrehe bis heute weiterhin.

 Lesen Sie auch die Beiträge KIRCHENGESCHICHTE, ca. 1844–1877 und ca. 1878–1898; SMITH, EMMA; SMITH, JOSEPH, LEHREN DES PROPHETEN; SNOW, ELIZA R.; WOODRUFF, WILFORD und YOUNG, BRIGHAM.]

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MEHREHE

Die Mehrehe wurde in der Kirche des neunzehnten Jahrhunderts praktiziert, wobei ein Mann gleichzeitig mit mehreren Frauen verheiratet war. Obwohl sie im Laufe der Geschichte in vielen Kulturen in verschiedensten Teilen der Welt praktiziert wurde, wurde die Mehrehe im “aufgeklärten” Amerika des neunzehnten Jahrhunderts von den meisten Menschen als unvorstellbar und untolerierbar betrachtet. Dadurch wurde sie zur kontroversiellsten und unverstandensten Praxis der Kirche in ihrer Geschichte. Obwohl die Mehrehe nur verhältnismäßig kurze Zeit praktiziert wurde, hatte sie einen wichtigen Einfluß auf die Eigendefinition der Kirche und trug dazu bei, die damaligen Heiligen der Letzten Tage als außerhalb der Gesellschaft stehend einzuordnen. Die Mehrehe war auch der Grund dafür, daß sich viele Nichtmitglieder völlig von der Kirche distanzierten und die Heiligen der Letzten Tage noch negativer beurteilten, als dies ohnehin schon der Fall war.

Gerüchte über die angebliche Ausübung der Mehrehe durch Mitglieder der Kirche führten während der dreißiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zu religiöser Verfolgung, und die öffentliche Bekanntmachung der Ausübung der Mehrehe am 29. August 1852 in Utah gab den Gegnern der Kirche eine gewichtige Waffe in die Hand, durch die sie Feindseligkeiten in der Öffentlichkeit weiter schüren konnten. Obwohl die Heiligen der Letzten Tage daran glaubten, daß die Mehrehe als Teil der freien Religionsausübung unter dem Schutz der amerikanischenVerfassung stand, wurde die Mehrehe von ihren Gegnern dazu verwendet, Utah bis zum Jahr 1896 die Eigenstaatlichkeit zu verwehren. Die noch härtere GESETZGEBUNG GEGEN DIE MEHREHE beraubte die Heiligen der Letzten Tage ihrer Bürgerrechte, führte zum Entzug des Körperschaftsrechts der Kirche und zur Beschlagnahme des Eigentums der Kirche, bis die Mehrehe infolge des MANIFESTS VON 1890 aufgegeben wurde. Die Mehrehe stellte auch für die Mitglieder der Kirche eine Herausforderung dar. Die ersten Ausübenden der Mehrehe waren moralisch erzkonservative Nachkommen der Puritaner, die mit der Mehrehe ringen mußten und sie erst und ausschließlich nach Erhalt einer persönlichen geistigen Bestätigung von Gott auszuüben begannen.

Im Jahr 1843, ein Jahr vor seinem Tod, diktierte der Prophet Joseph Smith seinem Schreiber eine lange Offenbarung über die Lehre vom ewigen Bestand der Ehe (LuB 132). Diese Offenbarung enthielt auch die Lehre, daß ein Mann unter bestimmten Umständen auch mehr als eine Frau heiraten dürfe. Obwohl diese Offenbarung erst am 12. Juli 1843 schriftlich aufgezeichnet wurde, sprechen Beweise ziemlich eindeutig dafür, daß Joseph Smith bereits zehn Jahre zuvor (wahrscheinlich im Juni 1831) die Lehre von der Mehrehe offenbart bekommen hatte, und zwar in Zusammenhang mit seinen Bibelstudien. Bibelstellen, aus denen hervorging, daß auch die altbiblischen Patriarchen und Propheten in Mehrehe gelebt hatten, riefen in Joseph Smith Fragen hervor, mit denen er sich an Gott wandte und ihn über die Ehe im allgemeinen und nach der Mehrehe im besonderen fragte. Dabei erfuhr er, daß ein Mann gleichzeitig mehrere Ehefrauen haben dürfe und damit keinen Ehebruch begehe, wenn der Herr - wie dies bei den Patriarchen des Altertums der Fall gewesen war, dies gebiete. Joseph Smith erfuhr dabei auch, daß eines Tages der Kirche die Mehrehe geboten werden würde (siehe LuB 132:1–4; 28–40.)

Es gibt nur wenige Hinweise darauf, daß die Mehrehe in der Kirche der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts praktiziert wurde. Die Existenz der damals noch nicht schriftlich festgehaltenen Offenbarung war nur wenigen bekannt; die vermutlich einzige damals existente Mehrehe bestand zwischen Joseph Smith und Fanny Alger <Alger, Fanny>. Dennoch kursierten jede Menge Gerüchte - Vorboten künftiger Herausforderungen.

Im April 1839 verließ Joseph Smith nach sechs Monaten Haft das LIBERTY-GEFÄNGNIS mit dem Gefühl großer Dringlichkeit hinsichtlich des Abschlusses seiner Mission (siehe KIRCHENGESCHICHTE: ca. 1831–1844.) Seit er im April 1836 KIRTLAND-TEMPEL <Kirtland-Tempel> von Elija <Elija> die Schlüssel der Siegelung empfangen hatte (LuB 110:3–16), arbeitete er darauf hin, die Heiligen der Letzten Tage auf weitere Lehren und Verordnungen, unter anderem auf die Mehrehe, vorzubereiten.

Joseph Smith <Smith, Joseph> war sich der unvermeidlichen Tatsache bewußt, daß die Einführung der Mehrehe zu großer Kritik Anlaß geben würde. Nach den Vorkommnissen in Kirtland war er sich klar, zu welchen Spannungen es innerhalb seiner eigenen Familie kommen würde. Auch wenn seine Frau Emma durch ihren Glauben an die Berufung ihres Mannes die Lehre von der Mehrehe als göttliche Offenbarung und nicht als Joseph Smiths Eigenfabrikat betrachtete, konnte sie sich damit nicht abfinden. Abgesehen davon konnte die Mehrehe zu einer Spaltung in der Kirche und zu einer Verstärkung der Feindseligkeiten von außen führen. Dennoch hatte Joseph Smith das Gefühl, sie einführen zu müssen. Einige Monate vor seinem Tod sagte er: “Mir kommt es darauf an, Gott genau in den Dingen, die er uns gebietet, gehorsam zu sein und andere Menschen zum gleichen Gehorsam zu bewegen. Es kommt nicht darauf an, ob das Prinzip beliebt oder unbeliebt ist. Ein wahres Prinzip werde ich immer hochhalten, auch wenn ich dabei ganz allein sein sollte.” (LPJS, S. 340.)

Obgleich sich Joseph Smith sicher war, daß Gott ihm und der Kirche die Mehrehe geboten hatte, hätte er sie nicht eingeführt, wenn er nicht von der Richtigkeit des Zeitpunkts überzeugt gewesen wäre. Mehrere seiner engsten Vertrauten sagten später, daß Joseph Smith die Mehrehe in Nauvoo erst nach langem inneren Ringen und der göttlichen Warnung zur Vorsicht eingeführt habe. Lorenzo Snow <Snow, Lorenzo> erinnerte sich deutlich an eine im Jahr 1843 stattgefundene Unterhaltung, in deren Verlauf Joseph Smith den Kampf beschrieben hatte, den er “bei der Überwindung seines Widerwillens” in bezug auf die Mehrehe auszustehen gehabt hatte:

Er kannte die Stimme Gottes. Er wußte, daß der Allmächtige ihm die Einführung der celestialen Mehrehe geboten hatte und er mit gutem Beispiel vorangehen solle. Er wußte,             daßer nicht nur seine eigenen Vorurteile und Voreingenommenheit bekämpfen und überwinden mußte, sondern die der ganzen christlichen Welt ... aber Gott hatte ihm dieses Gebot gegeben. (The Biography and Family Record of Lorenzo Snow, S. 69–70, Salt Lake City, 1884.)

Dennoch waren sich Snow und andere Vertraute des Propheten einig, daß Joseph Smith die Mehrehe in Nauvoo erst eingeführt hatte, nachdem ihm ein Engel dies ausdrücklich befohlen und ihm mit seiner Abberufung als Prophet gedroht hatte. (Bachman, S. 74,75.) Danach teilte Joseph Smith Brigham Young <Young, Brigham> mit, daß er dem Gebot Folge leisten wolle, auch wenn es ihn sein Leben kosten würde, “denn dies ist das Werk Gottes und er hat diesen Grundsatz [der Mehrehe] offenbart, und es steht mir nicht zu, Gott zu lenken oder ihm etwas zu gebieten.” (Brigham Young Discourse, 8. Okt., 1866, Kirchenarchiv.)

Trotz der biblischen Präzedenzfälle gingen auch andere die Mehrehe nicht blind oder aus sturem Gehorsam zu Joseph Smith ein. Aus persönlichen Aufzeichnungen geht hervor, daß fast jeder, der in Nauvoo eine Mehrehe schloß, in eine tiefe Glaubenskrise stürzte, die erst durch persönliche Offenbarung beigelegt wurde. Wer damals eine Mehrehe einging, tat dies im allgemeinen erst nach Erhalt einer göttlichen Bestätigung und betrachtete es ausschließlich als religiöse Pflicht.

Auch die Menschen, die Joseph Smith am nächsten standen, waren verunsichert. Nachdem Brigham Young zum ersten Mal von der Mehrehe erfahren hatte, sagte er, daß er jede Leiche in einem Begräbniszug beneide und “wohl lange nicht darüber hinwegkommen” werde (JD 3, S. 266.) Der Bruder des Propheten, Hyrum Smith <Smith, Hyrum>, weigerte sich, solange er nur konnte, bis er sich dazu gewungen sah, sich an Gott um Hilfe zu wenden. Beide Personen gaben die Lehre von der Mehrehe an andere weiter. Emma Smith <Smith, Emma> schwankte hin und her. Einmal verkündete sie lautstark ihren Widerstand und ein andermal erteilte sie Joseph ihre Zustimmung, daß er sich an eine weitere Frau siegeln lassen dürfe. (Siehe Kommentar von Orson Pratt, JD 13, S. 194.)

Verstärkt wurde das Problem auch dadurch, daß sich eine neue Ehe- und Familienordnung nur schwer besprechen ließ, da man ja nicht offen darüber sprechen dürfte. Wer zum Verkünden der neuen Lehre berufen wurde, betonte die damit verbundenen strengen Bündnisse, Verpflichtungen und Verantwortungen - mit einem Wort die Antithese sittlicher Ausschweifung. Wer aber nur gerüchteweise davon vernommen hatte, oder wer die Lehre von der Mehrehe falsch darstellte oder mißbrauchte, stellte sich häufig etwas anderes vor oder praktizierte es sogar. Zu letzterem Personenkreis zählte auch John C. Bennett <Bennett, John C.verdreht die Lehre von der Mehrehe>, seines Zeichens Bürgermeister von Nauvoo und Berater Joseph Smiths, der die Lehre von der Mehrehe zu eigenen Zwecken verdrehte. Er machte sich die kursierenden Gerüchte und den Mangel der Mitglieder an Information zunutze und verkündete die Lehre von der “geistigen Ehe”, die daraus bestand, daß er und seine Freunde zahlreiche Frauen zum Geschlechtsverkehr überreden wollten, indem sie ihnen sagten, daß sie mit ihnen “geistig vermählt” seien, auch wenn es nie eine Trauung gegeben hatte, und daß der Prophet dies genehmigt habe. Der Bennett-Skandal <Bennett-Skandal> führte zu dessen Ausschluß aus der Kirche und zur Verdrossenheit zahlreicher anderer Mitglieder der Kirche. Daraufhin reiste Bennett kreuz und quer durch die USA, hielt Hetzreden gegen die Heiligen der Letzten Tage und veröffentlichte eine bitterböse “Enthüllung” der Mormonen, in der er sie sittlicher Ausschweifungen anklagte.

Der Bennett-Skandal führte zu mehreren öffentlichen Erklärungen, die die Heiligen der Letzten Tage mit Argumenten für ihre Gegner versorgen sollte. Zwei Jahre später gaben Gegner der Kirche und Abtrünnige, von denen einige mit Bennett befreundet gewesen waren, die Tageszeitung NAUVOO EXPOSITOR <Nauvoo Expositor Zeitung> heraus, in der sie unter anderem über die Mehrehe schrieben und dadurch die Ereignisse ins Rollen brachten, die schließlich zu Joseph Smiths Ermordung führten. (Siehe MÄRYRERTOD VON JOSEPH UND HYRUM SMITH.)

In Wahrheit war die Mehrehe weit von jeder sittlichen Ausschweifung entfernt und beruhte auf einem äußerst vorsichtig gehandhabten System, in dessen Mittelpunkt Ordnung, beiderseitiges Einverständnis, Vorschriften und Bündnisse standen. Elder Parley P. Pratt <Pratt, Parley P.> schrieb 1845 darüber folgendes:

Diese heiligen Verordnungen haben nichts mit Hurerei, unzüchtigen Verhältnissen, Verwirrung oder Gesetzesbruch zu tun, sondern sind das genaue Gegenteil. Sie bestehen aus Gesetzen, Einschränkungen und Grenzen der strengsten Art, und nur die Menschen, die im Herzen rein sind, die Tugendhaftesten beziehungsweise die Umkehrbereiten, die so zu werden gewillt sind, sind würdig, daran teilzuhaben. Die schreckliche Last der Verdammnis erwartet jeden, der sie verkehrt oder mißbraucht. (The Prophet, 24. Mai 1845; siehe auch LuB 132:7.)

Aus dem Buch Mormon geht eindeutig hervor, daß der Herr aus bestimmten Gründen und für bestimmte Zwecke den Menschen durch seine Propheten gebieten kann, nach dem Gesetz der Mehrehe zu leben, daß die Einehe jedoch die allgemeine Norm ist. (Siehe Jakob 2:28–30.) Unerlaubte Mehrehen waren und werden als Ehebruch eingestuft. Eine weitere Schutzmaßnahme bestand darin, daß gültige Mehrehen ausschließlich durch die Siegelungsvollmacht geschlossen werden dürfen, die der präsidierende Beamte der Kirche innehat. (LuB 132:19.)

Sobald die Heiligen der Letzten Tage Nauvoo verlassen hatten, wurde die Mehrehe völlig offen praktiziert. In WINTER QUARTERS <WinterQuarters> war sie ein “offenes Geheimnis” und die in Mehrehe lebenden Familien wurden allgemein akzeptiert. Schon 1847 gab es Besucher in Utah, die darüber schrieben. Dennoch durften in Utah vor der Fertigstellung des Endowment-House in Salt Lake City im Jahr 1855 nur wenige Mehrehen geschlossen werden.

Sobald sich die Heiligen der Letzten Tage im Salzseetal endgültig niedergelassen hatten, gab Brigham Young die Lehre von der Mehrehe öffentlich bekannt und ließ die Offenbarung über die Ewigkeit der Ehe veröffentlichen. Unter seiner Leitung verkündete und verteidigte Elder Orson Pratt <Pratt, Orson bespricht die Mehrehe> am 29. August 1852 öffentlich die Mehrehe. Nach Besprechung der biblischen Beispiele (Abraham, Jakob, David usw.) erklärte Elder Pratt, daß die Kirche als Erbin der Schlüsselvollmacht, die bereits im Altertum erforderlich waren, um vor Gott gültige Mehrehen zu schließen, dazu verpflichtet sei, diese Form der Ehe als Bestandteil der Wiederherstellung einzuführen. Dann legte er verschiedene Gründe für die Mehrehe sowie deren Vorteile dar. (Siehe JD 1, S. 53–66.) Dieses “Verteidigungsmodell” wurde später noch öfter verwendet. All diese Abhandlungen erfolgten jedoch nach Einführung der Mehrehe und stellten keinerlei Rechtfertigung dar. Die Heiligen der Letzten Tage lebten die Mehrehe, weil sie daran glaubten, daß Gott sie ihnen geboten hatte.

Im allgemeinen wurde die Mehrehe nur mit zwei Ehefrauen eingegangen, selten mit mehr als drei. Größere Familien, wie die von Brigham Young <Young, Brigham> und Heber C. Kimball <Kimball, Heber C.>, waren Ausnahmefälle. Meistens lebten die Ehefrauen im selben Haus, hatten ihr eigenes Schlafzimmer oder lebten manchmal in Zweifamilienhäusern, wobei die beiden Haushälften einander spiegelbildartig gegenüberlagen. In anderen Familien baute der Ehemann jeder Ehefrau ein eigenes Haus, die sogar in verschiedenen Orten leben konnten. Obwohl sich die einzelnen Familien in ihrer Einrichtung voneinander unterschieden, entsprach ihr Lebensstil im großen und ganzen dem typischen Bild der amerikanischen Familie des neunzehnten Jahrhunderts. Die Mehrehen entsprachen auch in den Geburten- und Scheidungsstatistiken dem amerikanischen Durchschnitt. Die Frauen eines Ehemannes entwickelten häufig Gefühle großer schwesterlicher Liebe zueinander; andererseits entstand aber oft auch tiefe Abneigung der bzw. den anderen Frau(en) gegenüber.

Angesichts der amerikaweiten Antipolygamie-Bewegung überraschten die HLT-Frauen ihre ostamerikanischen Geschlechtsgenossinnen, die die Mehrehe mit der Unterdrückung der Frau gleichsetzten, durch öffentliche Demonstrationen zugunsten der Mehrehe als Ausdruck freier Religionsausübung. Aus den damaligen Ansprachen ist zu ersehen, daß Frauen mindestens so bereitwillig wie die Männer Mehrehen eingingen. Anstatt öffentlicher Aufforderungen an Frauen, Mehrehen zu schließen, finden sich zahlreiche Aufforderungen an die Männer, doch “ihrer Pflicht nachzukommen” und weitere Ehen einzugehen und für die Kinder zu sorgen. Obwohl sich manche dagegen wehrten, zeigten sich doch viele dazu bereit und gingen weitere Ehen ein. Es kam sogar häufig vor, daß Frauen die Initiative übernahmen und ihren Mann dazu drängten, sich eine weitere Frau zu suchen. Andererseits gingen aber auch Ehen darüber in die Brüche, weil der Mann auf der Mehrehe bestand.

Selbstverständlich funktionierten - wie bei Familien überhaupt - auch manche Mehrehefamilien besser als andere. Zahlreiche Anekdoten und die Existenz vieler gesunder Kinder sind Beweis dafür, daß manche Mehrehenhaushalte ganz besonders gut funktionierten. Einige Ehefrauen wurden mit ihrer Situation aber einfach nicht fertig. Die häufigsten Beschwerden der zweiten und dritten Frau richteten sich gegen den Mangel an persönlicher Widmung oder gegen ungerechte Behandlung. Nicht selten wurden Beschwerden laut, daß sich der Mann zu wenig um die einzelnen Frauen kümmere. Wo sich der Ehemann jedoch jeder Familie gewissenhaft und gerecht widmete und seine Ehefrauen tiefe Liebe zueinander und Achtung voreinander zeigten, wuchsen die Kinder als Mitglieder einer großen und gut funktionierenden Familie auf.

Die Mehrehe trug auch zur Haltung der Kirche gegenüber der Ehescheidung bei. Auch wenn Brigham Young Ehescheidungen negativ gegenüberstand und im allgemeinen davon abriet, so genehmigte er sie trotzdem, wenn er das Gefühl hatte, daß eine Frau in einer aussichtslosen Beziehung gefangen war und keine Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Lage bestand. Wollte sich ein Mann jedoch seiner Verpflichtungen gegenüber seiner Familie entledigen, riet ihm Präsident Young an, seinen Pflichten nachzukommen und sich von keiner Frau scheiden zu lassen, die willens war, ihn zu ertragen.

Im Gegensatz zu den Berichten der mormonenfeindlichen Presse der übrigen Welt führte die Mehrehe nicht zur Zeugung geistig oder körperlich behinderter Kinder. Den Mehrehen entstammten völlig normale Frauen und Männer, deren Nachkommen im ganzen amerikanischen Westen entlang der Rocky Mountains leben. Manche Forscher sind sogar der Ansicht, daß die außergewöhnlichen Leistungen vieler dieser Menschen eine Folge der zusätzlichen Pflichten und Aufgaben waren, die ihnen während ihrer Kindheit in Mehrehefamilien notwendigerweise übertragen worden waren. Die Mehrehe brachte vielen Frauen auch einer Erleichterung. Die Flexibilität innerhalb eines Mehrehehaushalts ermöglichte zahlreichen Frauen auf dem Gebiet der Medizin, Politik und in anderen öffentlichen Ämtern große Leistungen, da die Mehrehe vielen Frauen die Berufstätigkeit ermöglichte, die ihnen sonst verwehrt geblieben wäre.

Der genaue Prozentsatz der Heiligen der Letzten Tage, die in Mehrehe lebten, ist unbekannt, aber aus verschiedenen Studien geht hervor, daß höchstens 20 bis 25 Prozent aller männlichen Mitglieder der Kirche in Mehrehe lebten. Zur Blütezeit der Mehrehe lebten nicht mehr als ein Drittel aller Frauen im heiratsfähigen Alter in Mehrehe. Unter der Führungsschicht der Kirche war die Mehrehe jedoch die Norm. Der öffentliche Widerstand gegen die Polygamie führte 1862 zum ersten Verbot dagegen, das in den achtziger Jahren zunehmend strenger wurde. Die Kirche bestritt zwar die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze gegen die Mehrehe, die vom Obersten Gerichtshof der USA jedoch bestätigt wurde (siehe REYNOLDS GEGEN DIE VEREINIGTEN STAATEN), was zu einem harten und wirkungsvollen Kampf gegen die Polygamie führte, der von den Heiligen der Letzten Tage als “The Raid” [engl. raid = Überfall, Razzia] bezeichnet wurde. Viele in Mehrehe lebende Ehepartner gingen in den Untergrund. In Utah wurden Hunderte verhaftet und mußten in örtlichen oder außerhalb des Staates liegenden Gefängnissen Haftstrafen absitzen. Dieser Kampf hatte auf das Familienleben der Betroffenen sowie auf die Kirche und ihren Besitz eine starke negative Auswirkung, da sie in ihrem Wirken eingeschränkt war. (Siehe KIRCHENGESCHICHTE, ca. 1878–1898.) Nach einer Vision, in der ihm gezeigt wurde, daß die Fortsetzung der Mehrehe nicht nur die künftige Eigenstaatlichkeit Utahs, sondern auch die Existenz der Tempel und die Mission der Kirche aufs Spiel setzte, gab Präsident Wilford WOODRUFF <Woodruff, Wilford veröffentlicht das Manifest> im Oktober 1890 ein Manifest heraus, in dem zwecks friedlicher Lösung des Problems das offizielle Ende der Mehrehe verkündet wurde.

Mehrehefamilien aus den Anfangstagen der Mehrehe existierten weit in das 20. Jahrhundert hinein, was der Kirche zusätzliche politische Schwierigkeiten brachte. Die Schließung neuer Mehrehen hörte nach 1890 auch nicht einfach automatisch auf. Nach einem halben Jahrhundert der unter großen Opfern praktizierten Mehrehe war für viele treue Heilige der Letzten Tage die Abschaffung der Mehrehe beinahe so problematisch wie deren Einführung in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Nach 1890 wurden in HLT-Siedlungen in Kanada, dem Norden Mexikos und in einigen anderen Orten auch weiterhin vereinzelt Mehrehen geschlossen. Infolge des Interesses der amerikanischen Öffentlichkeit an den zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattgefundenen Anhörungen im Kongreß über den in das Abgeordnetenhaus Gewählten B. H. Roberts <Roberts, B.H. im US-Abgeordnetenhaus> und sowie den Anhörungen im Senat wegen Senator Reed Smoot <Smoot, Reed im US-Senat> (siehe SMOOT, ANHÖRUNGEN IM SENAT) gab Präsident Joseph F. Smith <Smith, Joseph F., “Zweites Manifest”> 1904 eine weitere amtliche Erklärung, das “Zweite Manifest” <Manifest, Zweites>, heraus. Seit damals besteht die einheitliche Richtlinie der Kirche, jedes ihrer Mitglieder auszuschließen, dem die Mehrehe oder deren öffentliche Befürwortung angelastet wird. Die heutigen Fundamentalisten, die nach wie vor die Mehrehe praktizieren, sind keine Mitglieder der Kirche.

BIBLIOGRAPHIE

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Bitton, Davis. “Mormon Polygamy: A Review Article.” Journal of Mormon History 4 (1977), S. 101–118.

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Van Wagoner, Richard S. Mormon Polygamy: A History. Salt Lake City, 1986.

Whittaker, David J. “Early Mormon Polygamy Defenses.” Journal of Mormon History 11 (1984), S. 43–63.

DANEL W. BACHMAN

RONALD K. ESPLIN

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ANTI-POLYGAMIE-GESETZE

Bigamie besteht in der gesetzwidrigen Handlung,  eine neue Ehe zu schließen, während ein ungeschiedener Partner oder eine ungeschiedene Partnerin aus einer früheren Ehe noch am Leben ist.  Da viele bedeutende Heilige der Letzten Tage im neunzehnten Jahrhundert laut Kirchenmandat Polygamie ausübten, geriet die Kirche in den siebziger und achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Verruf -  sowohl weil sie sich wegen Bigamie strafbar gemacht hatte, als auch wegen der rechtlichen Angriffe auf die Kirche und ihre Mitglieder.

Bigamie wurde von den frühen Kirchengerichten Englands in den vergangenen Jahrhunderten als Vergehen gegen das heilige Ehesakrament betrachtet. Das englische Parlament erließ 1604 ein Gesetz, das Bigamie zu einem von weltlichem Recht verfolgbaren Schwerverbrechen machte. Nach der Unabhängigkeitserklärung der USA erließen die einzelnen Bundesstaaten Gesetze gegen Bigamie, die aber bis zum neunzehnten Jahrhundert in Utah kaum bekannt waren.

Der amerikanischen Regierung steht das verfassungsmäßige Recht zu, Gesetze für ihre Territorien zu erlassen und in Ausübung dieses Rechts erließ der Kongress im Jahr 1862 das sogenannte “Morrill-Gesetz” <Morrill-Gesetz>, wodurch Bigamie in den US-Territorien ein strafrechtliches Vergehen wurde, das mit einer Geldstrafe und fünf Jahren Haft geahndet werden konnte.  Dieses Gesetz wurde durch den Prozess REYNOLDS GEGEN DIE VEREINIGTEN STAATEN im Jahr 1879 bestätigt, wobei der Angeklagte geltend machte, dass dieses Gesetz dem ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung widerspreche, der ihm die freie Religionsausübung garantiere.

Nur wenige Mormonen wurden angeklagt, Bigamie begangen zu haben, weil die US-Regierung Schwierigkeiten hatte, Zeugenaussagen über Mehreheschließungen zu bekommen.  Stattdessen klagte man die Mormonen der “bigamen Kohabitation” an, die durch das “Edmunds-Gesetz” aus dem Jahr 1882 zu einem Vergehen erklärt worden war.  Die Kohbitation war leicht zu beweisen und in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts verbüßten über 1300 Mormonen-”Cohabs” deswegen Gefängnisstrafen.

Die Gesetze gegen die Polygamie wurden zum Druckmittel gegen die Kirche eingesetzt, indem angedroht wurde, die Bürgerrechte ihrer Mitglieder auszusetzen und das Vermögen der Kirche einzuziehen. Durch das Edmunds-Gesetz durften in Polygamie lebende Personen nicht als Geschworene einberufen werden, kein öffentliches Amt bekleiden und besaßen kein Wahlrecht. Durch das “Edmunds-Tucker-Gesetz” <Edmunds-Tucker-Gesetz> aus dem Jahr 1887 wurde der Kirche das Körperschaftsrecht abgesprochen und die Gelder des Auswanderungsfonds mit der Erklärung konfisziert, dass durch sie Polygamie gefördert würde. Darüber hinaus genehmigte es das Beschlagnahmen aller sich in Kirchenbesitz befindenden Ländereien, die nicht unmittelbar für religiöse Zwecke verwendet wurden und über der vom Morill-Gesetz belegten Einschränkung von 50.000 Dollar erworben wurden. Im Idaho-Territorium wurde 1885 ein Testeid eingeführt, durch den allen derzeitigen und ehemaligen Heiligen der Letzten Tage  aufgrund der Haltung der Kirche Polygamie gegenüber das Wahlrecht abgesprochen wurde.

Nachdem der Oberste Gerichtshof im Prozess The Late Corporation of the Mormon Church vs. United States (Die frühere Körperschaft der Mormonenkirche gegen die Vereinigten Staaten) im Jahr 1890 die Konfiszierung des Kircheneigentums unter dem Edmunds-Tucker-Gesetz sowie im Prozess Davis vs. Beason den Testeid in Idaho bestätigte, wurde klar, dass Polygamie zum wirtschaftlichen und politischen Untergang der Kirche führen würde. Bereits kurze Zeit nach diesen Entscheidungen empfing Präsident Wilford Woodruff <Woodruff, Wilford veröffentlicht das Manifest> die Offenbarung, die das Gebot widerrief, dass würdige männliche Mitglieder der Kirche mehrere Frauen heiraten sollten und gab das sogenannte Manifest <Manifest> bekannt, in dem er den Heiligen der Letzten Tage offiziell riet, sich den Anti-Bigamie-Gesetzen des Landes zu unterwerfen. (Siehe LuB, Amtliche Erklärung Nr. 1.)  Das Manifest bereitete den rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen der amerikanischen Regierung und der Kirche ein Ende.

Im Jahr 1892 beschloss der US-Kongress eine letzte, föderale Verfügung, durch die Polygamisten die Einwanderung in die Vereinigten Staaten untersagt wurde. Dieser Ausschluss ist auch heute noch Teil des amerikanischen Einwanderungsgesetzes.

Die Bundesstaaten Utah, Oklahoma, New Mexico und Arizona nahmen um die Jahrhundertwende als Bedingung ihrer Aufnahme in den amerikanischen Staatenbund das vom US-Kongress geforderte Anti-Bigamie-Gesetz in ihre Verfassungen auf. Die Verfassung des Bundesstaates Idaho verbietet nicht nur die Bigamie, sondern verbietet Polygamisten und Personen mit “celestialer Eheschließung” die Ausübung öffentlicher Ämter sowie das Wählen. Nach dem Prozess Budge vs. Toncray wurde es jedoch vom Obersten Gerichtshof des Bundesstaates Idaho dahingehend ausgelegt, dass sich dieses nicht auf monogam lebende Heilige der Letzten Tage beziehe, die in einem Tempel der Kirche heiraten.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben Gerichte auf Bundes- und Bundesstaatsebene Polygamisten auf Basis verschiedener allgemeingültiger Gesetze rechtlich verfolgt.  So haben beispielsweise Bundesbehörden Klagen gegen Polygamisten eingereicht und ihnen Verstöße gegen das Postgesetz zur Last gelegt, weil sie sich durch Postsendungen, in der inhaltlich für Polygamie geworben wurde, schuldig gemacht hätten; ebenso wurde ihnen vorgeworfen, durch die Reise mit ihren Ehefrauen über die Bundesstaatsgrenze sich der zwischenstaatlichen Entführung und des zwischenstaatlichen Transportes von Frauen zu unsittlichen Zwecken schuldig gemacht zu haben. Aufgrund ihrer Mehrehe haben Polygamisten auch rechtliche Schwierigkeiten bei der Adoption, bei Erbrechtsfällen und bei der Bewerbung um Beamtenposten erlebt. Die sich ändernde gesellschaftliche Einstellung zu unkonventionellen Familienstandsformen konnte jedoch eine derartige Anwendung dieser Gesetze untergraben.  So wurde beispielsweise 1988 in Arizona von einem Gericht entschieden, dass einem geständigen Polygamisten der Ankauf von Staatsaktien nicht aufgrund seines Ehestandes verwehrt werden dürfe. 

Die Gesetze gegen die Mehrehe und derjenigen, die sie ausüben, wurden voll reformierenden Eifers erlassen.  Im amerikanischen Kongress und in den Parteiprogrammen wurden die Polygamie der Mormonen sowie die Sklaverei in den Südstaaten als die beiden “Überbleibsel aus der Zeit des Barbarentums” behandelt. Die Gesetzgeber waren aber nicht so mitteilsam, was ihre eigene religiöse Bigotterie betraf. Ihr Zweck war die Zerstörung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Kirche und die Bigamie war das Mittel dazu. Die weltliche Position der Kirche wurde zerrüttet, aber dennoch überstand sie die Krise.

BIBLIOGRAPHIE

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Davis, Ray Jay. “The Polygamous Prelude.” American Journal of Legal History 6, 1962, S. 1-27.

Driggs, Ken. “The Prosecutions Begin.” Dialogue 21 (1988), S. 109-125.

RAY JAY DAVIS

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MANIFEST, DAS MANIFEST VON 1890

Das Manifest von 1890 war eine Proklamation von Präsident Wilford WOODRUFF <Woodruff, Wilford erläßt das Manifest>, in der zu lesen war, daß die Kirche die MEHREHE <Mehrehe> aufgegeben habe. Mit dem Erlaß dieses Manifests ging ein Jahrzehnt der Verfolgung und der Härte zu Ende, in dem sich die Heiligen der Letzten Tage hartnäckig gegen die ihrer Meinung nach verfassungswidrige Gesetzgebung gegen die Mehrehe wehrten. Obwohl das Manifest häufig als Offenbarung bezeichnet wird, war es ursprünglich eine Presseverlautbarung, die nach dem Empfang einer Offenbarung durch Präsident Woodruff formuliert worden war. Das Manifest <Manifest> entspricht im heutigen Buch “Lehre und Bündnisse” <Lehre und Bündnisse> der “Amtlichen Erklärung Nr. 1” <Amtliche Erklärung Nr. 1> .

Nach Inkrafttreten des Edmunds-Tucker-Gesetzes <Edmunds-Tucker-Gesetz> im Jahr 1887 wurde der Kirche die Existenz sehr schwer gemacht (siehe MEHREHE, GESETZGEBUNG GEGEN DIE MEHREHE.) Durch dieses Gesetz verlor die Kirche unter anderem ihren Status als Körperschaft, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt, und man drohte sogar mit der Beschlagnahme der Tempel. Nach Rücksprache mit Priestertumsführern in verschiedenen Siedlungen reiste Präsident Woodruff am 3. September 1890 nach San Francisco, wo er mit bekannten Geschäftsleuten und Politikern sprach. Er kehrte am 21. September mit dem festen Entschluß nach Salt Lake City zurück, göttliche Bestätigung einer Entscheidung zu erlangen, die ihm immer unvermeidlicher erschien. Ein Jahr später erzählte er einigen Mitgliedern der Kirche, daß die Entscheidung einerseits zwischen der Beibehaltung der Mehrehe und dem Verlust der Tempel bestanden hatte, “wodurch alle heiligen Handlungen zu einem sofortigen Ende gekommen wären”, und andererseits der Aufgabe der Mehrehe, um dadurch auch weiterhin alle notwendigen Verordnungen für Lebende und Verstorbene vollziehen zu können. Präsident Woodruff fügte auch hinzu, daß er ausschließlich auf göttliche Weisung hin gehandelt habe: “Ich hätte alle Tempel fahrenlassen, ich wäre ins Gefängnis gegangen und hätte alle anderen verhaften lassen, wenn der Gott des Himmels mir nicht zu handeln geboten hätte, wie ich auch tatsächlich gehandelt habe. Und als die Stunde kam, in der ich dieses Gebot empfing, war mir alles völlig klar.”

Präsident Woodruffs Offenbarungserlebnis fand in der Nacht zum 23. September 1890 seinen Höhepunkt. Tags darauf erzählte er mehreren Generalautoritäten, daß er die ganze Nacht lang wegen der anstehenden Entscheidung mit dem Herrn gerungen hatte. “Das ist dabei herausgekommen”, sagte er und legte ihnen einen 510 Worte langen Text vor, der später von George Q. Cannon <Cannon, George Q.>, einem Mitglied der Ersten Präsidentschaft noch überarbeitet wurde. Am 6. Oktober 1890 wurde dieser Text anläßlich der Generalkonferenz der Kirche den anwesenden Heiligen der Letzten Tage vorgelesen und von ihnen bestätigt.

Obwohl fast alle Führer der Kirche das Manifest von 1890 für inspiriert hielten, gab es dennoch unterschiedliche Meinungen in bezug auf dessen Ausmaß und Gültigkeitsdauer. Einigen Führern fiel es begreiflicherweise schwer, eine langjährige Praxis der Kirche aufzugeben, die sie noch dazu als von Gott geboten betrachteten. Aus diesem Grund wurden auch in den darauffolgenden Jahren gelegentlich Mehrehen geschlossen. Diesbezügliche Gerüchte tauchten schon bald auf, und aufgrund verschiedener Aussagen in Zusammenhang mit den Anhörungen im US-Senat wegen des aus Utah stammenden Senators Reed SMOOT <Smoot, Reed im Senat> wurde es schon bald offensichtlich, daß die Mehrehe doch noch nicht völlig aufgegeben worden war. Dem wurde während der Generalkonferenz im April 1904 ein Ende bereitet, als die Erste Präsidentschaft ein “Zweites Manifest” vorlegte, das das ausdrückliche Verbot der Mehrehe enthielt und Personen, die sich dieser Übertretung schuldig machten, mit Kirchendisziplin und sogar mit dem Ausschluß drohte.

Das Manifest von 1890 stellt eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und in der des Bundesstaates Utah dar. Nicht nur, daß es das Ende der Mehrehe bedeutete, sondern es leitete auch ein neues Zeitalter der Kirche ein, in dem sie sich von den zu ihrer Isolierung führenden Praktiken der Vergangenheit befreite, in dem sie sich an die amerikanische Gesellschaft annäherte und sich schließlich in sie integrierte. (Siehe UTAH, EIGENSTAATLICHKEIT DES BUNDESSTAATES UTAH.)

BIBLIOGRAPHIE

Alexander, Thomas G. Mormonism in Transition, S. 3–15. Urbana, Ill., 1986.

Gibbons, Francis M. Wilford Woodruff, S. 353–361. Salt Lake City, 1988.

PAUL H. PETERSON