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DIE WIRTSCHAFT IN DER PIONIERZEIT

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage hat im 19. Jahrhundert zweifellos wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung der großen Täler des amerikanischen Westens [“Great Basin”] beigetragen - jedenfalls bis im Jahre 1869 die transkontinentale Eisenbahn fertiggestellt war, aber auch noch bis zur Jahrhundertwende. Obgleich die Eisenbahn der Isolation des Gebietes ein Ende bereitete und der HEIMARBEIT sowohl Vorteile als auch Herausforderungen verschaffte, verringerte sich die wirtschaftliche Rolle der Kirche in der Pionierzeit nicht wesentlich (Siehe WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER KIRCHE).

Die Einflußnahme der Kirche auf die Wirtschaft war in ihrer Theologie verankert. Die Heiligen der Letzten Tage vertreten die Auffassung, daß die Errichtung des Reiches Gottes auf der Erde - d.h. die Erde für die Wiederkehr des Erretters zu entwickeln und zu verschönern - eine Hauptaufgabe des Gottesvolkes ist. Die Pioniere glaubten, daß die Kirche im Auftrag Gottes und seines Volkes für die Errichtung des Reiches handele. Die Kirchenführung trage die Verantwortung, das Reich zu entwickeln und zu vervollkommnen, und sie habe die religiöse Pflicht, das Millennium vorzubereiten und alles mit Blick auf diese Zeit herzustellen und zu bauen. Kanäle zu graben, Herden zu hüten, Felder zu bestellen, Telegraphenleitungen, Eisenbahnen und Fabriken zu bauen wurde als religiöse, gottverehrende Handlungen angesehen, vergleichbar mit Gebet, Gottesdienst und anderen religiösen Aktivitäten.

Weil der Wirtschaft teilweise religiöse Bedeutung zugewiesen wurde, war es jederman völlig klar, daß alle wirtschaftlichen Unternehmungen in Übereinstimmung mit Evangeliumsprinzipien auszuführen seien. Die Schürfung von Edelmetallen sowie andere Tätigkeiten, die nicht wesentlich zur Produktion oder zur Stabilisierung der Gemeinde beitrugen, wurden nicht gebilligt. Individualismus, Preistreiberei und Spekulationen wurden möglichst unterbunden, und das einzelne Mitglied wurde statt dessen angehalten, “mit den Brüdern eins zu sein” [“to be one with the brethren”]. Heilige der Letzten Tage sollten nicht nur einträchtig miteinander zusammenarbeiten, sondern auch soweit wie möglich, was weltlichen Besitz anbetrifft, gleichgestellt sein, so daß sie sich dessen erfreuen könnten.

Präsident Brigham YOUNG <Young, Brigham> erkannte schon früh die wirtschaftliche Bedeutung von Frauen bei der Kultivierung des unwirtlichen Bodens. Die Frau war nicht nur Partnerin des Mannes in der Landwirtschaft und der Heimarbeit - besonders da ja auch viele Männer abwesend auf Mission waren -, sondern Brigham Young ermutigte sie auch, z.B. im Telegraphenamt oder im Geschäft zu arbeiten, und er gewann sie im gesamten Territorium für die Arbeit in der SEIDENINDUSTRIE.

Der Aufbau des Pionierreiches erforderte die Errichtung einer zweistöckigen Wirtschaft, deren Grundlage die Landwirtschaft und Handarbeit war, die die nötigsten Bedürfnisse der Siedler und der ständig neuankommenden Einwanderer befriedigen mußte. Über dieser Basis war sozusagen ein Dach aus Kapitalanlagen errichtet, die künftiges Wachstum sichern sollte. Im allgemeinen basierten die Programme auf dreierlei Aktivitäten. Erstens war die Führung bestrebt, die Produktion durch ein weitverbreitetes Missionsprogramm und durch die Förderung und Organisierung der Einwanderung zu vergrößern (Siehe EINWANDERUNG UND AUSWANDERUNG; AUSWANDERUNGSFOND). Von 1847 bis 1880 wanderten über 70.000 neubekehrte Mitglieder in die großen Täler des Westens ein, um auf Farmen oder in Fabriken zu arbeiten oder an Projekten der KOLONISATION mitzuwirken.

Zweitens trachtete die Kirchenführung, die Schaffung von Kapital zu fördern: Sie unterstützte die Suche nach neuen Bodenschätzen, beteiligte sich an deren Entwicklung, machte die Ersparnisse der Mitglieder im Westen und in Europa flüssig und zweigte Geldmittel aus der Produktion von Konsumgütern ab, um sie zur Vermehrung von reproduzierbarem Vermögen zu verwenden. Umfangreiche Pioniergruppen schickte man nach Süd-Utah, um dort Eisen zu fördern und zu bearbeiten, nach Süd-Nevada, um Silber und Blei zu fördern, nach Nord- und Zentral-Utah, um Kohle zu fördern, nach Südkalifornien, um dort einen Lagerplatz zu errichten, nach Süd-Utah, um Baumwolle und andere subtropische Produkte anzupflanzen, in den Norden und Süden von Utah und Idaho, um Weideland zu nutzen und in Hunderte von Gebieten, die man bewässern und dort daher Kolonien gründen, Bewässerungssysteme und Farmen anlegen konnte (Siehe STADTPLANUNG).

Als man die Ersparnisse flüssig machte, um diese Entwicklungsprojekte zu fördern, war die grundlegende organisatorische Einrichtung die Aufgabe des Vermögensverwalters. Gewöhnlich war der Präsident der Kirche auch gleichzeitig der Vermögensverwalter, der Immobilien verwaltete, kaufte und verkaufte; der Spenden einsammelte und wieder ausgab; der generell den gemeinsamen Fond der Gemeinschaft benutzte, um eine Infrastruktur, ein Transportwesen, ein Handelssystem und ein Erziehungswesen zu schaffen. Manchmal wurde das mit Hilfe von Chartergesellschaften erreicht, wie der Deseret-Iron-Gesellschaft, der Deseret-Sugar-Manufacturing-Gesellschaft und der Deseret-Telegraphen-Gesellschaft. Der Präsident der Kirche konnte auch regionale wirtschaftliche Initiativen leiten wie die WEIHUNG in den fünfziger Jahren, die kooperative Bewegung in den sechziger und die VEREINIGTE ORDNUNG in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.

Die zweite organisatorische Einrichtung war das Netzwerk der Zehntenhäuser, in die man Sachspenden wie Butter, Eier, Kälber, Hühner, Heu, Weizen und andere Produkte brachte, die man dann verwendete, um Arbeiter zu unterstützen, die an Schulen, in Gerbereien, Wollspinnereien, Mühlen, am Straßenbau und an anderen Projekten beschäftigt waren. Die Pionierwirtschaft war größtenteils bargeldlos, und daher machte es das Zehntenhaus auch möglich, Kredit, den man an einem bestimmten Ort für Arbeit oder Waren verdient hatte, an einem anderen Ort auszugeben. Zehntenscheine und Kredite, die letzten Endes in den Büchern des Vermögensverwalters reguliert und in Einklang gebracht wurden, brachten auf diese Weise den Handel im Westen in Gang.

Drittens versuchten die Kirchenführer der Pioniergesellschaft auch die nachteilige Handelsbilanz der Region auszugleichen. Sie bemühten sich um Investitionen der Mitglieder von überall her und förderten den Verkauf von Vieh, Getreide, Salz, Baumwolle, Trockenfrüchten, Wollprodukten und anderen Exportartikeln aus der Region. Auf diese Weise war es der Kirche möglich, die Entdeckung von Gold in Kalifornien im Jahre 1848 zu ihren Gunsten zu wenden. Die Kirche erwarb in den fünfziger Jahren etwa 150.000 Dollar in Goldstaub von zurückkehrenden Goldgräbern, aus Spenden ihrer Mitglieder in Kalifornien und von Männern, die man nach Kalifornien geschickt hatte, mit dem ausdrücklichen Auftrag, dort Hartgeld zu verdienen und damit die Wirtschaft in Utah zu fördern.

Aufgrund des Problems des Zahlungsausgleichs mißbilligte die Kirche die Einfuhr unnötiger Konsumgüter. Die Führer drängten die Heiligen der Letzten Tage, keinen Tee, Kaffee, Tabak, keine alkoholischen Getränke oder modische Kleidung aus dem Osten zu importieren. Selbstgemachte Kleidung wurde als heiliger angesehen. Um zu verhindern, daß Geschäftsleute “von außerhalb” durch den Handel mit diesen Waren reich wurden, kauften die Kirchenführer die Geschäfte der meisten auf, ließen andere boykottieren oder die meisten Importe des Territoriums von der “Zion’s Cooperative Mercantile Institution” (ZCMI) abwickeln, die der Kirche gehörte.

Die Kirche förderte die weitaus meisten wirtschaftlichen Aktivitäten, die unter anderen Umständen von Kapitalisten im Osten oder von der Regierung ausgeübt worden wären. Indem sie die Bewegung der Bevölkerung und neue Investitutionen beeinflußte und indem sie durch die Zehntenhäuser Preiskontrolle ausübte, regulierte die Kirche die Verteilung von Gütern und Geldmitteln und maximierte so das Sozialprodukt. Indem sie immer neue Familien in die Siedlungen und Täler schickte, verhinderte die Kirche die Entstehung einer Klassengesellschaft und trug zu größerer Einkommensgleichheit bei. Auf diese Weise hatten die Führer der Kirche größeres Vertrauen in die Wirksamkeit der von ihnen geführten Wirtschaft als in die Fähigkeit eines unpersönlichen Preissystems, um optimal Güter und Mittel zu verteilen und die wirtschaftliche Entwicklung schnell und diversifiziert zu bewirken.

BIBLIOGRAPHIE

Arrington, Leonard J. Great Basin Kingdom: An Economic History of the Latter-day Saints, 1830–1900. Cambridge, Massachusetts, 1958.

Arrington, Leonard J. “Religion and Planning in the Great Basin, 1847–1900.” Proceedings of the Thirty-second Annual Conference of the Western Economic Association, S. 37–41. Salt Lake City, 1957.

LEONARD J. ARRINGTON