Mit Turm und Spitze war der Nauvoo-Tempel das imposanteste Gebäude der Stadt Nauvoo und in einer Entfernung von über 30 km sichtbar. Mit der Vorderseite nach Westen, stand er auf einer sanft ansteigenden Höhe und überschaute den unteren Teil der Stadt und den Mississippi-Fluß.
Der Tempel war aus grauweißem bis gelblichbraunem Kalkstein von hoher Qualität gebaut. Die eindrucksvollen, am Fundament einen Meter dicken Mauern waren von Facharbeiteren hochgezogen und verputzt worden. Einige Quader wogen 4000 Pfund. Das Haus war über 40 Meter lang und 28 Meter breit. Die Spitze des Turms stand 52 Meter über dem Erdboden und war mit einem horizontal fliegenden Engel verziert (zweifellos nach der Prophezeiung in Offenbarung 14:6–7).
Hervorstechende Merkmale an den Steinmauern waren die dreißig hohen, stark verzierten Pfeiler, neun an jeder Seite und sechs je vorne und hinten. Jeder Pfeiler war mit einem großen Mondstein am Sockel und einem Sonnenstein an der Spitze geschmückt. Die Mond- und Sonnensteine waren als Flachrelief in den Stein eingemeißelt. Auch ein Stern schmückte jeden Pfeiler. Diese kosmischen Zeichen symbolisierten die drei Grade der Herrlichkeit im künftigen Dasein (1. Kor. 15:41; LuB 76).
Der Bau begann im Herbst 1840. Die Ecksteine wurden in einer eindrucksvollen Zeremonie während der Generalkonferenz am 6. April 1841 gesetzt. Bis der Tempel fertig und geweiht war, unterbrachen finanzielle Schwierigkeiten und Verfolgungen die Konstruktion immer wieder.
William Weeks <Weeks, William, Architekt> war der offizielle Architekt und beaufsichtigte den Bau fast während der ganzen Bauzeit. Das Gebäude bestand aus verschiedenen architektonischen Stilen, aber vieles war auch eigenständig, inspiriert von einer Vision, die Joseph SMITH <Smith, Joseph> gehabt hatte. Er gab Weeks genaue Bauanweisungen gemäß seiner Vision. So bestand er zum Beispiel auf runde Fenster im zweiten Stock (HC 6:196–197).
Ein so großes Gebäude belastete die Mittel eines fast mittellosen Volkes enorm. Am Ende kostete das Bauwerk über eine Million Dollar. Das Geld kam hauptsächlich vom Zehnten und von Opfergaben der Mitglieder. Einige spendeten ihre ganzen Ersparnisse, viele arbeiteten ohne Bezahlung. Sie arbeiteten vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, selbst bei schlechtem Wetter.
Die Steine wurden aus einem Steinbruch in der Nähe der Stadt herbeigeschafft. Holz kam aus dem Bundesstaat Wisconsin, und man ließ es in riesigen Flößen den Mississippi-Fluß nach Nauvoo hinuntertreiben. Mitglieder aus England stifteten eine große Glocke <Nauvoo-Glocke>, die über 1500 Pfund wog. Als die Heiligen der Letzten Tage Nauvoo verlassen mußten, entfernten sie die Glocke und nahmen sie mit in den Westen, wo man sie später in einem Turm auf dem Tempelplatz in Salt Lake City aufhängte.
Die Besonderheit im Keller war ein großes Becken aus weißem Kalkstein, das auf dem Rücken und der Schulter von zwölf lebensgroßen Ochsen ruhte. Das war das Taufbecken, das für die heilige Handlung der Taufe für Verstorbene gedacht war. Der Flur war mit Ziegelsteinen gepflastert. Das Erdgeschoß enthielt in der Mitte einen großen Saal, der als Auditorium diente. An jedem Ende dieses großen Saales stand ein kunstvoll gearbeitetes Pult, das man auf vier Stufen vor die Sitzreihen gesetzt hatte. Dort nahm die Leitung des Aaronischen und Melchisedekischen Priestertums Platz. Auf dem Flur dieses Saales waren Sitzplätze angebracht, die man umkehren konnte, so daß die Versammelten nach jeder der zwei Seiten sehen konnten. Der erste Stock war ein genaues Duplikat des Erdgeschosses. Das oberste Stockwerk bestand aus zwei Hauptteilen. Der halbaufgestockte Teil am Westende war durch große Tücher unterteilt. Hier wurde das Endowment gegeben, und im Hauptteil unter dem schrägen Dach wurden die Siegelungen und die celestialen Eheschließungen vollzogen. Das ganze Dachgeschoß war verputzt und gestrichen, und auf dem Boden lagen Teppiche.
Gelegentlich wurden schon während der Konstruktion heilige Handlungen vollzogen, besonders die Taufe für Verstorbene. Obgleich das Gebäude noch nicht ganz fertiggestellt war, war der Tempel oft mit Mitgliedern gefüllt, die in den Monaten vor dem Auszug kamen, um heilige Verordnungen zu empfangen, sowohl für die Toten als auch für die Lebenden. Außer zu heiligen Handlungen benutzte man den Tempel auch häufig als Versammlungsort. Man hielt regelmäßig Sonntagsgottesdienste und sogar einige Generalkonferenzen darin ab. Er enthielt auch Büroräume für die Kirchenführung. Der Auszug in den Westen wurde im Tempel geplant und organisiert.
Da die meisten Heiligen, bedroht von Gewalttaten des Pöbels, Nauvoo Anfang Februar 1846 verließen, blieb lediglich eine ausgesuchte Arbeitergruppe zurück, die den Tempelbau fertigstellte. Drei Monate später war das Haus vollendet und wurde am 1.Mai 1846 öffentlich geweiht. Tausende wohnten den dreitägigen Weihungsgottesdiensten bei. Besucher zahlten einen Dollar Eintritt. Das Geld ermöglichte es den Arbeitern, sich mit ihren Familien dem Hauptzug der Kirche über die Prairie in den Westen anzuschließen.
Als man die meisten zurückgebliebenen Mitglieder im September 1846 aus der Stadt vertrieben hatte, wurde der Tempel vorübergehend aufgegeben. Pöbelhaufen schändeten und entweihten die heilige Stätte und beschädigten das Gebäude leicht. Versuche, den Tempel später zu verkaufen, blieben erfolglos. Das Haus wurde im Oktober 1848 absichtlich in Brand gesteckt und brannte nieder. Nur die Mauern blieben stehen. Eine französische Glaubensgemeinschaft (die Icarianer) kaufte das Grundstück und war im Begriff das Gebäude zu renovieren, als ein Tornado einige Mauern herunterriß und andere so schwer beschädigte, daß sie abgerissen werden mußten. Viele Steine benutzte man beim Bau anderer Gebäude in Nauvoo.
Heute hat die Kirche das Tempelgrundstück zurückgekauft. Eine Ausstellung über den Nauvoo-Tempel ist die Hauptattraktion im Besucherzentrum. Ein kleines, maßstabgetreues Modell befindet sich genau an der Stelle, wo der Tempel früher gestanden hat. Der Brunnen, der das Taufbecken mit Wasser versorgt hatte, ist heute noch intakt. Einige Sonnen- und Mondsteine, die einst den Tempel verzierten, werden in Museen aufbewahrt als Erinnerung an die Schönheit dieses einst majestätischen Tempels.
BIBLIOGRAPHIE
Colvin Don F. “A Historical Study of the Mormon Tempel at Nauvoo, Illinois.” Diplomarbeit, Brigham Young University, 1962.
Harrington, Virginia S. Rediscovery of the Nauvoo Tempel. Salt Lake City, 1971.
DON F. COLVIN