Politische Macht spielte sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Auflösung der HLT-Gemeinschaft im Bundesstaat Illinois eine wichtige Rolle. Die politische Situation war kompliziert und führte zu Rivalitäten und Kontroversen.
Als die Heiligen der Letzten Tage ankamen, war Commerce (NAUVOO) im Kreis Hancock im Bundesstaat Illinois eine politische Enklave der Whig-Partei <Whig-Partei> in einem Bundesstaat, in dem sonst alle politischen Ämter, mit Ausnahme des Obersten Gerichtshofs, von Mitgliedern der Demokratischen Partei <Demokratische Partei> besetzt waren. Im Kreis Hancock waren die beiden politischen Parteien jedoch so gleich stark, daß ein paar hundert Stimmen in einer Wahl entscheidend sein konnten. Die Entscheidungen der Legislative des Bundesstaates hätten die Heiligen der Letzten Tage jedoch nur mäßig beeinflussen können, selbst wenn sie als einheitlicher Block gewählt hätten. Ämter im Kreis dagegen waren ihrem Einfluß offener, denn hier entschieden weniger als tausend Stimmen die Wahl des Sheriffs, des Kreiskommissars oder des Nachlaßrichters. Eine liberale Verordnung in der Verfassung von Illinois verlieh allen erwachsenen Einwanderern bereits nach sechs Monaten Aufenthalt das Wahlrecht. Das war eine heiß umfehdete Streitfrage in einem Bundesstaat, in dem die beiden Parteien fast gleich stark waren, und zwar besonders, als immer neue britische Einwanderer nach Nauvoo kamen (Siehe EINWANDERUNG UND AUSWANDERUNG).
Die Entscheidung von Joseph SMITH <Smith, Joseph>, den starken Block der HLT-Stimmen einzusetzen, läßt sich aus dem Wunsch nach Selbstregierung und Schutz vor VERFOLGUNG ableiten. Er war sich stets der göttlichen Weisung bewußt, die Heiligen zu sammeln und ein Reich Gottes auf Erden zu errichten, und so sah er in der Politik eine Möglichkeit, seine Gemeinschaft zu vergrößern und zu beschützen. Zunächst verhielten sich die Heiligen politisch neutral, aber 1840 und 1841 stimmten sie fast ausschließlich für die Whig-Partei in Illinois, obgleich sie in Missouri für die Demokratische Partei gestimmt hatten. Das verärgerte einige Demokraten, aber die meisten Politiker umwarben die HLT-Blockstimme genauso wie sich Politiker im Bundesstaat New York um die Stimmen der Katholiken bewarben.
Das erste Beispiel möglichen Stimmenhandels durch Heilige der Letzten Tage war die Abstimmung in der Legislative im Dezember 1840 für die NAUVOO-CHARTA <Nauvoo-Charta>. Sowohl die Abgeordneten der Demokraten als auch der Whig-Abgeordnete Abraham Lincoln <Lincoln, Abraham> waren dafür. In dessen Folge wurden das Nauvoo Amtsgericht, die NAUVOO-LEGION <Nauvoo-Legion> und die Landwirtschafts- und Produktionsgesellschaft ins Leben gerufen, die das Rückgrat einer selbstregierenden Theokratie bildeten, was den angesessenen Siedlern des amerikanischen Westens jedoch gegen den Strich ging.
Die Tatsache, daß die meisten Politiker Rechtsanwälte waren und daß man Joseph Smith <Smith, Joseph> häufig verhaftete, erklärt Joseph Smiths Verstrickung in den Stimmenhandel. Ein Beispiel dessen war die Wahl John T. Stuarts <Stuart, John T.>, der der Whig-Partei angehörte, bei den Kongreßwahlen von 1841. Die Heiligen der Letzten Tage unterstützten ihn, weil die Whig-Abgeordneten Orville H. Browning <Browning, Orville H.> und Cyrus Walker <Walker, Cyrus> sich für Joseph Smith eingesetzt hatten, als man ihn in Missouri nach dem Ausweisungsbefehl verhaftet hatte. Genaugenommen war Joseph Smith ein Flüchtiger, denn er hatte nach sechs Monaten Haft im LIBERTY-GEFÄNGNIS <Liberty-Gefängnis> den Bundesstaat Missouri verlassen, obwohl ihm noch nicht der Prozeß gemacht worden war (Siehe SMITH, JOSEPH, GERICHTSVERHANDLUNGEN VON JOSEPH SMITH). Jedoch nicht alle Rechtsanwälte gehörten der Whig-Partei an. Der Richter in der Verhandlung von 1841 war Stephen A. Douglas <Douglas, Stephen A.>, ein ehrgeiziger Demokrat, der sich um die Stimmen der Mormonen bemühte. Er gewann die Wahl vom Dezember 1841, als Joseph Smith sich für die Demokraten entschieden hatte. Daraufhin verlor der Kreis Hancock seinen Ruf als whigfreundlicher Kreis.
Jetzt sahen die Nichtmormonen im Kreis Hancock die Stadt Nauvoo als politische Bedrohung an und organisierten sich politisch gegen die Mormonen. In den Kreiswahlen von 1841 waren sie erfolgreich (für viele Ämter hatte man keinen Gegenkandidaten aufgestellt), aber in den Nominierungen für die Legislative des Bundesstaates im Jahr 1842 wurden sie entscheidend geschlagen. Die Zugehörigkeit zu den beiden großen Parteien war so stark, daß eine dritte Partei keinen Erfolg gehabt hätte. In der Wahl für den Gouverneur von 1842 nahmen die Whigs gegen die Mormonen Stellung und der demokratische Kandidat Thomas Ford <Ford, Thomas>, der gegen die Verabschiedung der Nauvoo-Charta gestimmt hatte, wurde zum Gouverneur gewählt.
Gouverneur Ford ermahnte Joseph Smith, sich aus der Politik herauszuhalten, und dieser schien sich an den Rat zu halten, bis Ford im Juni 1843 aufgrund einer gerichtlichen Aufforderung aus Missouri einen Haftbefehl gegen den Propheten erließ. Ein Mitglied der Whig-Partei, der prominente Strafrechtler Cyrus Walker <Walker, Cyrus>, berief sich auf die kontroversielle Habeas-Corpus-Bestimmung der Nauvoo-Charta und erreichte die Haftentlassung Joseph Smiths. Daraufhin versprach der Prophet, Cyrus Walker seine Stimme zu geben. Sein Bruder Hyrum SMITH <Smith, Hyrum> andererseits, ein Demokrat, erklärte, die Mitglieder der Kirche sollten den Gegenkandidaten Joseph P. Hoge <Hoge, Joseph P.> wählen. Die Heiligen der Letzten Tage aus dem sechsten Wahlkreis stimmten dann auch für den Demokraten Hoge, aber die aus dem fünften hingegen für den Whig O.H. Browning, der gegen den Demokraten Douglas kandidierte.
Damit begann für beide politischen Parteien die Enttäuschung mit der HLT-Wählerstimme. Besonders die Whigs, die 1842–1843 ihre mormonenfeindliche Einstellung aufgegeben hatten in der Hoffnung von den Heiligen der Letzten Tage unterstützt zu werden, wandten sich von nun an offen gegen jeglichen Einfluß der Mitglieder der Kirche in Politik und im Gerichtswesen. Joseph Smith <Smith, Joseph> erkannte 1843, wie problematisch die Politik selbst in Nauvoo geworden war. In den Gemeindewahlen im Februar und August entstand interner Zwist, und Bürgermeister Smith beklagte sich, daß die Demokraten ihn im Wahlkampf unfair angegriffen hätten. Hinzu kam, daß der prominente Kirchenführer William Law <Law, William> das “Hoge Testimony” [den Aufruf den Kandidaten der Demokratischen Partei zu wählen] von Hyrum Smith öffentlich anprangerte.
Joseph Smith hatte 1844 die Kandidaten für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten um Rechtshilfe gegen die Ausschreitungen im Bundesstaat Missouri aufgefordert, aber keinerlei Zusagen erhalten. Daraufhin entschloß er sich, selbst für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. Einige sahen darin das Bemühen um politische Macht mit dem Ziel, das politische Gottesreich zu errichten. Andere meinten, Joseph Smith suche lediglich ein Podium, um seine Botschaft zu verbreiten, da er von vornherein keine Chance habe, die Wahl zu gewinnen. Die führende mormonenfeindliche Zeitung in Illinois, das Warsaw Signal <Warsaw SignalZeitung>, verhöhnte seinen Entschluß wie gewöhnlich, betrachtete ihn jedoch gleichzeitg als verwegen und bedrohlich.
Alle Versuche Joseph Smiths, politischen Einfluß zu gewinnen, stießen auf Widerstand der abtrünnigen Gruppe, die die Zeitung NAUVOO-EXPOSITOR <Nauvoo-Expositor> herausgab. Die Vernichtung der Druckerpresse und der Zeitung führten schließlich zum Tod von Joseph Smith im Juni 1844 (Siehe MÄRTYRERTOD VON JOSEPH UND HYRUM SMITH). In dieser angespannten Atmosphäre nahm die Stärke der Mormonenfeinde zu, indem sie Gouverneur Ford <Ford, Thomas, Gouverneur> beschuldigten, die Mormonen politisch zu begünstigen, um demokratische Stimmen zu erhalten. Die Heiligen der Letzten Tage büßten immer mehr Unterstützung ein, bis im Januar 1845 ihre Charta widerrufen und Nauvoo das Stadtrecht entzogen wurde. Unerlaubte Gemeindewahlen fanden jedoch in Nauvoo weiterhin statt, und die Heiligen gaben den Demokraten ihre Stimme in Kreis- und Bundesstaatswahlen. Bis 1846, als die Heiligen in den Westen auszogen (Siehe WESTEN, DER AUSZUG NACH DEM WESTEN) erregte ihre Teilnahme am politischen Prozeß die Gemüter der Nichtmormonen und trieb sie dazu, die Heiligen der Letzten Tage auszuweisen.
Politik und politische Macht waren für den Aufstieg und den Einfluß Nauvoos sowie für den Schutz des Propheten Joseph Smith unerläßlich, aber die schlechte Handhabung politischer Macht hat wahrscheinlich auch zum Fall der Stadt mit beigetragen.
BIBLIOGRAPHIE
Flanders, Robert B. Nauvoo: Kingdom on the Mississippi. Urbana, Illinois, 1965.
Gayler, George R. “The Mormons and Politics in Illinois: 1839–1844.” Journal of the Illinois State Historical Society 49, 1956, S. 48–66.
Hampshire, Annette P. Mormonism in Conflict: The Nauvoo Years. New York, 1985.
ANNETTE P. HAMPSHIRE