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NAUVOO CHARTA

Am 16. Dezember 1840 verabschiedete der Bundesstaat Illinois ein Gesetz, das Nauvoo das Stadtrecht verlieh. Unter den Hunderten von Siedlungen war lediglich Alton, Chicago, Gelena, Quincy und Springfield dieser außergewöhnliche rechtliche Status verliehen worden. Die Heiligen der Letzten Tage und ihre Nachbarn stellten hohe Erwartungen an die Zukunft.

Viele Einwohner von Illinois waren betroffen darüber, wie grausam man die Heiligen der Letzten Tage in Missouri behandelt hatte (Siehe MISSOURI, KONFLIKTE IN MISSOURI) und wollten den verfolgten Anhängern Joseph SMITHs <Smith, Joseph> politisch und rechtlich helfen. Außerdem hatte der Bundesstaat wegen der Wirtschaftskrise von 1837 und 1838 wirtschaftliche Schwierigkeiten, und viele Abgeordnete erhofften sich einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Einwanderung mehrerer tausend neuer Siedler. Ermutigt von der politischen Führung des Bundesstaates glaubten die Heiligen der Letzten Tage, daß eine Stadtverfassung ihnen die Sicherheit gewähren würde, die sie vorher nie gehabt hatten. Sogar Richter Stephen A. Douglas <Douglas, Stephen A.> vom Obersten Gericht des Bundesstaates war trotz vorheriger gegensätzlicher Gerichtsentscheidungen der Ansicht, daß eine Stadtverfassung unwiderruflich und immerwährend gelte.

Das Nauvoo-Dokument, weder die längste noch die kürzeste Stadtverfassung, glich denen anderer Städte in Illinois. Über die Hälfte der Absätze glichen der Verfassung von Springfield. Eine Stadt durfte von einem gewählten Stadtrat regiert werden Im Gegensatz zu anderen Stadträten in lllinois saßen im Stadtrat von Illinois Ratsherren, Stadträte und ein Bürgermeister. Das Dokument unterschied sich auch dadurch, daß es nicht aus einer sondern aus drei Verfassungsurkunden bestand, die die Stadt, die Universität und die Stadtmiliz rechtlich verankerten. Vorher wurden Schulen und Milizen gesetzlich getrennt behandelt. Die Universität der Stadt Nauvoo wurde vom Stadtrat verwaltet und war die einzige Stadtuniversität im Bundesstaat Illinois.

Eine wichtige Bestimmung besagte, daß der Stadtrat alle Verordnungen verabschieden durfte, außer solche, die der amerikanischen Verfassung oder der des Bundesstaates Illinois widersprachen. Damit war der Stadtrat der Generalversammlung des Bundesstaates praktisch gleichgestellt. Der Stadtrat von Nauvoo konnte Verordnungen verabschieden, die nicht einmal mit den Gesetzen des Bundesstaates übereinstimmen brauchten, sondern nur in Nauvoo Gültigkeit besaßen. Sie durften nur nicht der Verfassung des Bundes oder des Bundesstaates widersprechen. Selbst die Kommandatur der städtischen Miliz, der NAUVOO-LEGION <Nauvoo-Legion>, sowie die Verwaltung der Universität konnten Gesetze verabschieden und waren lediglich durch die Staats- und die Bundesverfassung eingeschränkt.

Fast sofort führte diese Machtstellung zu Mißverständnissen und Kontroversen, obgleich drei der anderen fünf Städte die gleiche Stadtverfassung besaßen. Da diese Bestimmungen eben nichts Außergewöhnliches waren, waren die negativen Reaktionen eindeutig eine Folge dessen, wie Außenstehende die Heiligen der Letzten Tage und die künftigen Verordnungen des Stadtrats einschätzten. Auch das Amtsgericht von Nauvoo, das dritte Amtsgericht, das die Generalversammlung des Bundesstaates ins Leben gerufen hatte, wurde zum Streitobjekt. In den Amtsgerichten von Chicago und Alton amtierte lediglich ein einziger Richter, aber der oberste Richter von Nauvoo war zugleich auch der Bürgermeister der Stadt, der den Vorsitz vor Gericht führte. Als Beisitzer im Gericht amtierten die Stadträte. Die Feinde der Kirche argumentierten, daß die gesetzgebende und richterliche Gewalt, so wie Joseph SMITH sie - wenn auch rechtens - als Bürgermeister der Stadt innehatte, zu republikfeindlichem Mißbrauch führen könnte.

Bei Genehmigung der Stadtverfassung hatten einige Abgeordente wahrscheinlich gehofft, die Heiligen der Letzten Tage dadurch vor VERFOLGUNG schützen zu können, aber die Charta wurde zum zweischneidigen Schwert. Als die Mehrheit in Illinois sich gegen Nauvoo stellte, jedoch nicht die gesetzlichen Mittel besaß, Macht und Einfluß der Stadt einzuschränken, wandten sie ungesetzliche Mittel an. Als Gewalttätigkeiten ausbrachen, gelang es ihnen sogar die Nauvoo-Charta außer Kraft zu setzen. Obgleich die Nauvoo-Charta eindeutig auf Präzedenzfällen basierte, die erst als republikfeindlich bezeichnet wurden, als sich die Heiligen der Letzten Tage auf die Charta beriefen, garantierte ihnen die Charta im Endeffekt weder den erhofften Frieden noch den Schutz, den die Heiligen gesucht hatten.

BIBLIOGRAPHIE

Kimball, James L. jun. “The Nauvoo Charter: A Reinterpretation.” Journal of the Illinois State Historical Society 54, Frühjahr 1971, S. 66–78.

JAMES L. KIMBALL, JUN.