Für griechische Philosophen war die rationale Erforschung der Natur (physis) der Weg, die Realität zu erkennen. Ursprünglich wurde das Natürliche radikal vom Gesetz (nomos) unterschieden, welches lediglich menschliche Vereinbarungen bestimmte. Dementsprechend ist es zum Beispiel für die Menschen natürlich, zu sprechen, aber es ist nicht natürlich, Griechisch zu sprechen. Daher betrachteten diese Philosphen anfänglich das Gesetz nicht als natürlich, obwohl es für die Menschen natürlich war, von solchen Vereinbarungen regiert zu werden. Später wurden die Ausdrücke „Natur“ und „Gesetz“ vereint, um das präpolitische goldene Zeitalter zu beschreiben, in dem es keine Regeln, Verträge, Eigentum oder Ehe gab. So gesehen bildete das „Naturgesetz“ nach dem Dahinschwinden des goldenen Zeitalters kein Vorbild für das Zivilrecht. Stattdessen bezeichnete es ein dem Verstand zugängliches Gefilde, welches die Welt übersteigt. Römisch-katholische Theologen borgten schließlich von der heidnischen Philosophie den Ausdruck „Naturgesetz“, um eine strukturierte soziale Ethik zu begründen. Thomas von Aquin unterschied bei seiner aristotelischen Restrukturierung des Christentums vier Ebenen des Gesetzes: ewig, göttlich, natürlich und menschlich. Das ewige Gesetz, der Verstand Gottes und die Struktur der Realität, behauptet er, wird durch Offenbarung als göttliches Gesetz und durch den Verstand als natürliches Gesetz bekannt und das menschliche Gesetz sollte danach streben, das natürliche Gesetz zu reflektieren.
Obwohl Heilige der Letzten Tage manchmal sowohl über die Gründe für das positive Gesetz, welches durch göttliche Offenbarung gegeben wurde, als auch über den moralischen Sinn der Menschheit spekulieren (Siehe Ethik), ist im HLT-Kanon ein moralisches Naturgesetz nicht eindeutig beschrieben. Einige meinen, dass aus den Schriften grobe Äquivalente für ein moralisches Naturgesetz hervorgelockt werden können. Jedoch wird Theologie, die sich auf philosophische Spekulationen stützt, normalerweise als Konkurrent zu götllicher Offenbarung betrachtet. Solche Spekulationen sind provisorisch und problematisch. Demzufolge gibt es unter den Heiligen der Letzten Tage kaum Diskussion über ein moralisches Naturgesetz.
HLT-Schriften stützen sich nicht auf Vorstellungen über ein moralisches Naturgesetz, sondern sprechen über Gottes Gebote, Satzungen und Verordnungen, über Gottes Willen, seine Pläne und Absichten, über die Ordnung der Welt (dazu gehören ihre Maße und Grenzen), über die gottgegebenen Gesetze und so weiter. Die in den Schriften erwähnten Gestze scheinen stattdessen Beispiele eines göttlichen positiven Gesetzes zu sein, auch wenn sie nicht willkürlich sind. Da sie moralische Vorschriften sind, bilden sie die Bedingungen für den eingegangenen Bund in der Hoffnung, dass aufgrund des Gehorsams gegenüber Gott Segnungen kommen werden. Es wird davon ausgegangen, dass Gottes Gebote auf Gründen beruhen, die menschlichen Untersuchungen oder Erklärungen nicht vollständig zugänglich sind.
Unter den Heiligen der Letzten Tage findet sich jedoch auch ein anderer Gedankenstrang. Dieser bestätigt die „Naturgesetze“ in dem Sinne, als er die wissenschaftlich gefundenen Gesetzmäßgkeiten bezeichnet. Diese Gesetze sind deskriptiv, nicht präskriptiv oder normativ zu sehen. Man kann sie auf zweierlei Weise betrachten, entweder als von Gott eingestzt oder als von Gottes Willen unabhängig existierend. Dementsprechend wirken sie als Zustände, die durch die Pläne der Menschen, in Kooperation mit Gott bewältigt werden müssen. Viele Heilige der Letzten Tage, vor allem Naturwissenschaftler, unterstützen deratige Ansichten. Jedoch stellen die Schriften sie weder systematisch dar noch sind sie in die Lehren der Schriften integriert.
Die prophetische Gabe macht die Bedingungen des Bundes mit Gott zugänglich. Solche Bündnisse sind von Segnungen und Flüchen begleitet. Heilige der Letzten Tage betonen daher Gehorsam, der sich auf das göttliche positive Gesetz beläuft und nicht auf das Diktat der Natur, wie es dem menschlichen Verstand bekannt ist.
BIBLIOGRAPHIE
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LOUIS C. MIDGLEY