Seit den Anfängen der Kirche spielt Musik eine wichtige Rolle in den Versammlungen der Heiligen und spornt sie in ihrem Bemühen um geistige und kulturelle Verbesserung an. Die stilistische Vielfalt der Musik in der Kirche spiegelt sich in den verschiedenartigen Rollen, die die Musik im Leben der Heiligen der Letzten Tage spielt, wider.
Wie in vielen anderen Kirchen singen die Mitglieder am Anfang und am Ende der meisten Versammlungen ein Lied. In vielen Versammlungen der Heiligen der Letzten Tage werden Vor-, Zwischen- und Nachspiel instrumental, meistens auf der Orgel, vorgetragen. In vielen Gemeinden und Pfählen existiert ein Chor, und der bekannte Tabernakelchor der Kirche tritt jede Woche in der Sendung „Music and the Spoken Word“ auf, die in aller Welt ausgestrahlt wird. Musik erheitert die meisten sozialen Zusammenkünfte der Gemeinden und Pfähle, wie z.B. Kulturabende, Feiern, Theateraufführungen, Roadshows, Tanzabende und Tanzfestivals , sowie Familientreffen und Familienabende. Musik in den verschiedensten Stilrichtungen wird regelmäßig in Medienproduktionen der Kirche wie Audio- und Videokassetten, Filmen, Dia- und Werbefilmen und Sendungen für das Radio und Fernsehen eingesetzt, die als Lehrmittel und für die Missionsarbeit verwendet werden. Die Künstler, die diese Vielfalt an Musik komponieren und aufführen, stehen gewöhnlich im Einklang mit dem Grundsatz der Hilfsbereitschaft, der schon in den Anfängen der Kirche galt, indem sie einerseits ihre Talente mit anderen teilen, andererseits geistige Segnungen dafür vorausahnen und gleichzeitig selbst Freude am Musizieren empfinden.
Während manche christliche Kirchen in Amerika in der Vergangenheit eine zwiespältige Meinung zu Musik hatten, wurde dem Propheten Joseph Smith im Juli 1830 offenbart, dass „das Lied der Rechtschaffenen“ (LuB 25) mit einem Gebet verglichen werden kann. Damit wurde bestätigt, dass es angemessen ist, im Gottesdienst zu singen. Auf dieser Grundlage gründete der Prophet 1835 eine „Gesangsabteilung“ in der Kirche, um das Notenlesen und Gesangstechnik zu unterrichten. In Nauvoo und danach in Utah wurde das musikalische Niveau durch verschiedene gut ausgebildete britische Musiker gehoben, die sich der Kirche angeschlossen hatten und in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren. Durch den Einfluss dieser neuen Mitglieder etablierte sich Instrumentalmusik als angemessener Bestandteil des Gottesdienstes, was in der Offenbarung von 1830 nicht angesprochen worden war. Obwohl der Gesang der Gemeinden und Chöre in der Kirche eindeutig im Vordergrund stand, wurde Instrumentalmusik früh zur Begleitung eingesetzt. Auch Gruppen mit Holz- bzw. Blechblasinstrumenten und Streichinstrumenten gediehen in der Kultur der Heiligen der Letzten Tage und wurden zur musikalischen Begleitung der Militärübungen, der Freizeit- und und politischen Aktivitäten der Heiligen eingesetzt.
Zu Zeiten der Pioniere existierten in Utah mehrere relativ kurzlebige Vereine wie die Deseret Musical Association und die Deseret Philharmonic Society, die Partituren sammelten, ein regionales Verzeichnis von Musikern anlegten und neue pädagogische Methoden verbreiteten. Zur gleichen Zeit gründeten die Heiligen mehrere Musikunternehmen, die Instrumente und Noten in das Große Becken in Utah einführten. Ebenfalls zu dieser Zeit schickte Brigham Young in den 1860ern einige der besten Musiker der Kirche, darunter vor allem C. J. Thomas, auf Kolonialisierungsmissionen, um die Musik selbst in abgelegenen Siedlungen der Heiligen der Letzten Tage zu fördern. Im Zeitraum der 1870er bis 1920 übernahmen die Sonntagsschule und andere Hilforganisationen der Kirche allmählich die Verantwortung für die musikalische und sängerische Ausbildung junger Mitglieder der Kirche, boten ihnen Stellen in Musikgruppen an und veröffentlichten viele neue Kompositionen.
Anfangs wurden nur wenige Versuche unternommen, um die musikalischen Angelegenheiten der Kirche zu regeln oder zu vereinheitlichen. Erst 1920 ernannte Präsident Heber J. Grant zu diesem Zweck ein Allgemeines Musikkomitee der Kirche, das in erster Linie aus Musikern des Tabernakelchors bestand. Das Komitee setzte fest, welche musikalischen Stilrichtungen angemessen für den Gottesdienst waren und welche Instrumente (vor allem das Klavier und die Orgel) in den Versammlungen der Kirche gespielt werden konnten, beaufsichtigte die Produktion von Gesangbüchern und förderte den Musikunterricht. In diesem Zusammenhang bemühte sich das Komitee darum, Kirchenmusiker auf unterschiedliche Arten auszubilden, indem sie u.a. professionelle Musiker als Lehrer in den Gemeinden und Pfählen anstellten, Leitfäden für Chorleiter und Orgelspieler veröffentlichten und Rundbriefe zum Thema Musik verbreiteten. Solange das Komitee bestand, betreute es insbesondere die Arbeit der Musikkommiteen in den Gemeinden und Pfähle. In den 1970ern wurde das Komitee durch die Musikabteilung der Kirche ersetzt.
Präsident Brigham Young legte die Grundstimmung für offizielle Stellungnahmen der Kirche zum Thema Musik fest. Er bezeichnete sie als „Zauberkraft, die Harmonie verbreiten, das Herz des Menschen erfreuen und trösten und damit auf wundervolle Weise die rohe Schöpfung beeinflussen“ könne (JD 1:48). Die Generalautoritäten der Kirche preisen seitdem die Musik und heben ihre beruhigende, reinigende und friedensstiftende Wirkung hervor. Dabei werden am häufigsten die geistlichen Lieder, die speziell für den Gottesdienst der Kirche Jesu Christi geschrieben worden sind, empfohlen. Komponisten der Kirche haben Hunderte an Liedern und Hymnen und viele großangelegte, teilweise sogar modernistische geistliche Kompositionen geschrieben, darunter die „dramatic cantatas“ der 1920er von Evan Stephens und zahlreiche Oratorien, in denen normalerweise Themen, die spezifisch auf die Kirche zugeschnitten sind, behandelt werden, wie die Restoration-Oratorien von B. Cecil Gates und Merrill Bradshaw, Salvation for the Dead von Crawford Gates und Leroy Robertsons Oratorio from the Book of Mormon. Darüberhinaus hat sich unter den Mitgliedern der Kirche seit Lebzeiten Brigham Youngs auch vor allem die Bühnenmusik weiter entwickelt. Unter diesen Kompositionen befinden sich Partituren für Gedenkfestspiele (die z.B. in Palmyra im Bundesstaat New York, in Nauvoo im Bundesstaat Illinois und in Manti im Bundesstaat Utah stattfinden) und leichtere Bühnenwerke, wie das zur Hundertjahrfeier der Pioniere geschriebene Stück Promised Valley und viele Musicals der 1970er und 1980er, deren Zielgruppe vor allem Jugendliche waren.
Im 20. Jahrhundert fanden mehrmalige Diskussionen zum Thema Stil statt. Manche Kirchenautoritäten haben sich gegen verschiedene populäre musikalische Stilrichtungen aufgrund ihrer Lautstärke, rhythmischen Intensität und der Unangemessenheit mancher Texte ausgesprochen. Die Mitglieder der Kirche werden dazu aufgefordert, die Musik, die sie sich in ihrer Freizeit anhören, weise auszuwählen. Es ist auch zur Diskussion gestellt worden, welche Musikstile neben den Liedern des Gesangbuchs angemessen für den Gottesdienst sind. Trotz alledem hat religiöse Popmusik außerhalb des Gottesdienstes großen Erfolg, und manche Liedermacher innerhalb der Kirche haben gemäßigte Rockmusik für den informellen religiösen Gebrauch umgeschrieben. Viele solcher Lieder wurden in Liederbüchern und Kassetten, die von der Kirche gesponsert wurden, veröffentlicht oder privat für junge Mitglieder der Kirche aufgenommen.
Der bleibende Wert mancher kircheneigener Musik lässt sich schwer vorhersagen. Einerseits werden in der populären Musik oft die eher kurzlebigen stilistischen Trends der konfessionellen christlichen Musik nachgeahmt; andererseits sind etliche beeindruckende Werke auf der Basis der Gesangbuchlieder der Kirche entwickelt worden, und anhand mancher größerer Werke lässt sich eine immer zunehmende Verfeinerung und Höherentwicklung feststellen. Ferner werden die Mitglieder der Kirche Jesu Christi durch den umfassenden Gebrauch von Musik, die sie sich von anderen christlichen Traditionen geborgt haben, an eine größere Gemeinschaft von Gläubigen angeschlossen. Vor allem zeigt sich an der schieren Fülle der Musik in der Kirche, wie unermüdlich die ästhetischen Impulses der Mitglieder sind. Ganz unabhängig davon, ob sich ein unverwechselbarer Stil der Kirche Jesu Christi entwickeln wird, werden viele Musikstile zweifellos die Mitglieder der Kirche weiterhin inspirieren.
BIBLIOGRAPHIE
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MICHAEL HICKS