Im September 1990 versammelten sich etwa 2000 Menschen in Cedar City in Utah, um sich mit denen zu versöhnen, deren Vorfahren am Mountain-Meadows-Massaker, dem bedauerlichsten Ereignis in der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, teilgenommen hatten oder dabei getötet worden waren. Das Massaker fand zwischen dem 7. und 11. September 1857 statt, als einige Mormonensiedler aus Südutah mit Indianern aus der Umgegend durchziehende Auswanderer (mit Ausnahme der kleinen Kinder) töteten, die auf dem Weg nach Kalifornien waren.
Juanita Brooks hat ihre gründlichen Nachforschungen der Tragödie in ihrem oft zitierten Buch veröffentlicht und kommt zu folgendem Schluß: »Die vollständige, absolute Wahrheit dieser Angelegenheit liegt wahrscheinlich nicht im Bereich menschlichen Ermessens. Der Versuch, die Kräfte zu verstehen, die dazu [dem Massaker] und den darauffolgenden Ereignissen geführt haben, bleibt im besten Falle unzulänglich«. (Brooks, S. 223.) Brooks stellt jedoch fest, daß einige Einzelheiten dieser Tragödie klar ersichtlich sind.
Folgende Tatsachen tragen zum besseren Verständnis bei: Im Sommer 1857 marschierte eine große Abteilung amerikanischer Truppen westlich auf das Utah-Territorium zu (siehe UTAH-EXPEDITION). Obgleich BrighamYOUNG von der Bundesregierung zum Gouverneur des Territoriums ernannt worden war, hatte die Regierung in Washington ihn nicht über den Zweck der Truppenbewegung informiert. Er interpretierte die Entscheidung der Regierung daher als Wiederaufnahme der Verfolgungen, die die Heiligen der Letzten Tage vor ihrem Auszug in den Westen erduldet hatten. Am 5. August 1857 ließ er verlauten: »Eine feindliche Macht ist im Anzug und wird uns offensichtlich angreifen, um uns zu besiegen und zu vernichten.« Er erwartete einen Angriff, verkündete im Territorium den Ausnahmezustand und ordnete an, »daß alle Streitkräfte im Territorium sich bereithalten sollten, sich auf Befehl der drohenden Invasion sofort entgegenzustellen«. (Arrington, S.254.)
Zur Strategie Brigham Youngs, die näherkommende Truppen zurückzuschlagen, gehörte auch, sich mit Indianerstämmen im Gebiet zu verbünden. In einem Brief vom 4. August an einen Heiligen der Letzten Tage in Südutah forderte er ihn dazu auf, »die versöhnliche Politik den Indianern gegenüber, die ich immer vertreten habe, fortzusetzen und durch rechtschaffene Werke ihre Liebe und ihr Zutrauen zu erlangen, denn sie müssen wissen, daß sie uns helfen müssen oder daß die Vereinigten Staaten uns beide vernichten werden«. (Brooks, S. 34.)
Da die Jahreszeit schon vorangeschritten war, hatte sich eine Gruppe von Auswanderern, die nach Kalifornien unterwegs war, dazu entschieden, die südliche Route durch Cedar City und das 56 km weiter westlich gelegene Mountain Meadows zu nehmen. Mountain Meadows war damals ein Sumpfgebiet mit Quellen und reichlich Grasland, wo Reisende oft anhielten, um sich auszuruhen und ihr Vieh weiden zu lassen, ehe sie in die harte Wüstenlandschaft des Westens weiterzogen. Die Gruppe bestand aus etwa 120 Menschen und wurde von John T. Baker und Alexander Fanchez angeführt. Die meisten Mitglieder der Gruppe kamen aus Arkansas, es hatten sich aber auch Siedler aus anderen Gegenden unterwegs angeschlossen.
Als die Baker-Fancher-Gruppe von Salt Lake City nach Mountain Meadows zog, enstanden Zwistigkeiten zwischen einigen Auswanderern einerseits und Mormonensiedlern und den mit ihnen verbündeten Indianern andererseits. Aufgestachelt von Gerüchten, eigenen Beobachtungen und Erinnerungen an die Greueltaten, die viele Mormonen in Missouri und Illinois erlitten hatten, fühlten sich die Bewohner von Cedar City und Umgebung genötigt, etwas gegen den Auswanderertreck zu unternehmen, schickten jedoch vorher einen Reiter zu Brigham Young, um seinen Rat einzuholen. Der Bote ritt am 7. September 1857 los und legte die 480 km lange Strecke in etwas mehr als drei Tagen zurück.
Etwa eine Stunde nach seiner Ankunft befand sich der Bote mit einem Schreiben Brigham Youngs wieder auf dem Rückweg, in dem dieser erklärte, daß man die Soldaten wegen ihrer schlechten Ausrüstung im Herbst noch nicht erwarte. »Ohne unsere Hilfe können sie dieses Jahr nicht kommen. Ihr seht also, daß der Herr unsere Gebete erhört und den Schlag gegen unser Haupt wieder von uns abgewendet hat.«Als Antwort auf die Bitte um Rat schrieb er: »Was den Wagentreck anbetrifft, der durch unsere Siedlungen zieht, dürfen wir erst eingreifen, wenn wir sie davor gewarnt haben, uns zu belästigen. Ihr dürft Euch nicht mit ihnen einlassen. Wir nehmen an, daß die Indianer tun werden, was sie wollen, aber Ihr müßt versuchen, das gute Verhältnis mit ihnen aufrechtzuerhalten.« (Brooks, S. 63.) Der Bote erreichte Cedar City am 13. September.
Da war es jedoch bereits zu spät. Fast alle Männer, Frauen und Kinder der Baker-Fancher-Gruppe waren tot. Außer mehreren Personen, die vor dem Angriff weitergezogen waren, hatte man nur etwa 18 Kleinkinder verschont. Zwei Jahre später brachte man die Kinder zu Angehörigen in Nordwest-Arkansas zurück. Zwanzig Jahre danach wurde John D. Lee, einer der Mormonensiedler, der an dem Massaker beteiligt gewesen war, am ehemaligen Ort des Geschehens standrechtlich erschossen. So nahm er symbolisch die Verantwortung für diejenigen auf sich, die »sich genötigt sahen, das zu tun, was keiner unter normalen Bedingungen allein getan hätte und wofür kein einzelner zur Verantwortung gezogen werden kann«. (Brooks, S. 218.)
Noch hundert Jahre nach Lees Tod schwelte die kollektive Schuld derer, deren Vorfahren am Massaker teilgenommen hatten sowie der kollektive Schmerz der Kinder, die das Massaker überlebt hatten und der Angehörigen derer, die man getötet hatte, fort. Gegen Ende der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts begannen die Nachkommen der von der Tragödie Betroffenen sich einander allmählich zu nähern, um Wunden zum Verheilen zu bringen und sich zu versöhnen. Am 15. September 1990 versammelten sich viele und weihten einen Gedenkstein zum Andenken an die Mountain-Meadows-Opfer.
Einer der Sprecher anläßlich der Weihung war der Richter Roger V. Logan, jun. aus Harrison im Bundesstaat Arkansas, der mit 21 Opfern des Massakers und mit fünf der überlebenden Kinder verwandt ist. Er sagte: »Ich freue mich, vielen von euch den Dank auszusprechen für eure Arbeit, euer Mitwirken und eure Geschenke. Nun steht hier am Sterbeort der Auswanderer ein passendes Denkmal, ein Denkmal mit den Namen von 82 Menschen, die hier starben sowie den Namen der 17 Überlebenden. Es enthält auch Hinweise auf andere Personen, die dieser Gruppe anhört haben mochten.« Während er die Namen der Opfer verlas, bat er alle Verwandten, sich dabei zu erheben.
Rex E. Lee, Rektor der Brigham-Young-Universität und Nachkomme von John D. Lee, sprach ebenfalls bei der Gedenkfeier und sagte, es tröste ihn nicht, wenn er feststelle, daß sich im Laufe der Jahrhunderte ähnliche Tragödien abgespielt hätten. »Jeder Versuch, die Kräfte zu verstehen, die im Herbst 1857 in Südutah zusammengewirkt haben, verwirrt uns nur, und wir fragen uns, wie vernünftige Menschen es zulassen konnten, daß sich eine derartige Tragödie irgendwann, irgendwo und unter irgendwelchen Umständen überhaupt abspielen konnte.«
»Glücklicherweise«, fügte er hinzu, »ist ein vollständiges Verstehen der Gründe ebenso unwesentlich wie unmöglich. Unsere Aufgabe heute ist nicht, rückwärts zu schauen oder nach rationalen Erklärungen, Analysen oder Entschuldigungen zu suchen.Unser Augenmerk ist nicht auf 1857 gerichtet, sondern auf 1990, auf unsere Generation und auf die kommenden Generationen. Und was auch immer die Menschen damals zu ihren Handlungen bewegt haben mochte – unsere heutigen Motive müssen höher und edler sein.«
Gordon B. Hinckley, der Erste Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft der Kirche, sprach das Gebet und weihte das Denkmal. Vor dem Gebet sagte Präsident Hinckley, er sei »nicht als Nachkomme der Beteiligten nach Mountain Meadows gekommen«, sondern »als Vertreter eines ganzen Volkes, das wegen dem, was hier geschehen ist, viel gelitten hat.«
»Heute können wir die Geschichtsberichte lesen, aber wirklich verstehen und begreifen, was in jenen tragischen, furchtbaren Septembertagen 1857 geschehen ist, können wir nicht. Wir sind jedoch dankbar für den heilenden Einfluß, der uns hier im Geiste der Versöhnung zusammengeführt hat, während neue Generationen sich mit gegenseitigem Respekt und mit Verständnis begegnen. Über die Kluft der schwelenden Bitterkeit haben wir eine Brücke gebaut. Wir überschreiten diese Brücke und begrüßen einander im Geiste der Liebe, Vergebung und in der Hoffnung, daß so etwas nie wieder geschehen wird.« (Zitate aus den Ansprachen stammen aus unveröffentlichen Manuskripten der Mountain-Meadows-Memorial-Sammlung, Abteilung Kirchengeschichte, Salt Lake City, Utah.)
BIBLIOGRAPHIE
Arrington, Leonard J. Brigham Young, American Moses. New York, 1985.
Brooks, Juanita. The Mountain Meadows Massacre. Neuauflage, Norman, Oklahoma, 1991.
CHC 4:139-180.
RONALD K. ESPLIN
RICHARD E. TURLEY, JR.