Sterblichkeit wohnt Leiden inne. Der Körper unterliegt Schmerz und Unbehagen durch Hunger, Krankheit, Trauma, Gewalt und Ausgesetztsein. Als ein soziales Wesen ist der Mensch anfällig für emotionales Leiden, welches oft physischem Schmerz gleichkommt – Angst, Zurückweisung, Einsamkeit, Verzweiflung. Unter den Feinfühligen gibt es außerdem andere Ebenen tiefgründigen Leidens. Diese können sich zum Beispiel auf die Wahrnehmung der Auswirkungen von Sünde oder die Angst vor Missbrauch oder Gleichgültigkeit geliebter Menschen beziehen. Außerdem gibt es nachempfundenes Leiden als Antwort auf den Schmerz einer anderen Person und der Wahrnehmung, dass der Geist sich zurückzieht. Für Heilige der Letzten Tage zeigen die Worte Jesu am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ das Ausmaß der Tiefe seines Leidens (Matt 27:46).
Die Menschheit hat viele Versuche unternommen, die Notwendigkeit von Leid zu erklären: (1) es ist ein wesentliches Element, den moralischen Charakter zu testen und zu stärken; (2) es ist ein unvermeidbarer Nebeneffekt von Entscheidungsfreiheit; (3) es ist täuschend oder gänzlich mysteriös. Welchen partiellen Trost diese Versuche auch geben mögen, Leid bleibt bestehen.
Die HLT-Lehre gibt zwei Erklärungen, die in der jüdisch-christlichen Tradition ungebräuchlich sind. Erstens: Die ganze Menschheit entschied sich dafür, in die Sterblichkeit einzutreten. Alle hatten ein vollständiges Wissen bezüglich des großen Preises, den Christus zahlen müsste und den die Nachfolge in seinem Namen mit sich bringen würde. Zweitens: Unser Leiden soll ein Abbild des Leidens des Herrn sein. Sein Leiden war notwendig, „aufdass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei.....damit er geamäß dem Fleische wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen“ (Alma 7:12). Auf keine andere Weise konnte die Erlösung des Universums und das Entfesseln echter Liebe und Barmherzigkeit erreicht werden. Jesus beschrieb seine eigene Mission fast vollständig mit Ausdrücken der Liebe: „damit...ich alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Eintlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, ....damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, ihnen Schmuck bringen anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt der Verzweiflung“ (Jes 61:1-3; Luk 4:18-19).
Nur in dem kommenden Leben inmitten der Herrlichkeit des Neuen Jerusalems wird die volle Wirksamkeit der Mission Christi „alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Off 21:4). Trotzdem waren für Heilige der Letzten Tage das Annehmen seiner Messianität und die Verkündigung seines Evangeliums dazu gedacht, unnötigen Schmerz und Leiden zu lindern. Das tun sie auf vielerlei Art. Erstens bilden sie eine Grundlage für die Hoffnung, durch das Sühnopofer Jesu Christi mit Gott wieder vereint zu werden. Zweitens machen sie einen kontinuierlichen Zugriff auf den Heiligen Geist, den Tröster, möglich. Dadurch kann man zu innerem Frieden gelangen, „der alles Verstehen übersteigt“ (Phil 4:7). Drittens lehren sie das Gesetz der Ernte, nämlich dass viele Segnungen selbstverständlicherweise auf Gehorsam gegenüber den Gesetzen, die sie regieren, folgen. Auf der anderen Seite kann viel Elend vermieden werden, darunter Sünde und den sie begleitenden Schmerz, Scham und geistige Striemen. Und schließlich bilden sie eine Gemeinschaft, die auf Verwandtschaft aufbaut, eine Gesellschaft gegenseitig unterstützender und beschützender Mitgläubiger, deren Aufgabe es ist, „einer des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei; ja, und willens [zu sein], mit den Trauernden zu trauern, ja, und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen“ (Mosia 18:8-9).
Heilige der Letzten Tage glauben nicht, dass Schmerz wesensmüßig gut ist. In ihren Lehren gibt es wenig Askese, Kasteiung oder negative Geistigkeit. Wenn aber für die Erfüllung der Lebensmission Leiden unvermeidbar ist, steht man vor der Herausforderung, sich auf alle Ressourcen seiner Seele zu stützen und gläubig und gut auszuharren. Wenn aus Schmerz Nutzen kommt, ist das nicht, weil Schmerz von Natur aus etwas Reiningendes in sich hat. Leiden kann genauso verwunden und verbittern und eine Seele verfinstern wie es reinigen, verfeinern und erleuchten kann. Alles hängt von der Reaktion ab. Als der Prophet Joseph Smith schrecklich allein und eingesperrt war, sagte der Herr zu ihm: „Mein Sohn, Friede sei deiner Seele; dein Ungemach und deine Bedrängnisse werden nur einen kleinen Augenblick dauern, und dann, wenn du gut darin ausharrst, wird Gott dich in der Höhe erhöhen....wisse, mein Sohn, daß dies alles dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen wird. Des Menschen Sohn ist unter das alles herabgefahren. Bist du größer als er? Darum halte an deinem Weg fest....fürchte nicht, was Menschen tun können, denn Gott wird mit dir sein, für immer und immer“ (LuB 121:7-8; 122:7-9).
BIBLIOGRAPHIE
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CARLFRED BRODERICK