Der folgende Artikel befaßt sich mit der Geschichte der Besiedelung Kirtlands durch die Heiligen der Letzten Tage und versucht das Leben der dortigen Heiligen der Letzten Tage in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu beschreiben.
Während der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts gab es für die Heiligen der Letzten Tage hauptsächlich zwei Sammlungsorte, nämlich das westliche Missouri und das nordöstliche Ohio. Obwohl sich mehr Mitglieder der Kirche in Missouri versammelten, war die Stadt Kirtland in Ohio das eigentliche Verwaltungszentrum der Kirche und von 1831 bis in die ersten Monate des Jahres 1838 Ausgangspunkt der Missionsarbeit der Kirche.
Das Wachstum der Kirche im nordöstlichen Ohio setzte bereits kurz nach Gründung der Kirche im Jahr 1830 ein. Ab dem späten Oktober 1830 begann die Kirche in Ohio Fuß zu fassen, da innerhalb eines einzigen Monats 150 Personen getauft wurden, von denen ungefähr 35 in der Stadt Kirtland lebten. (Siehe LAMANITEN, MISSION ZU DEN LAMANITEN.) Joseph SMITH <Smith, Joseph> zog mit seiner Familie Anfang 1831 nach Kirtland, und im Frühling und Frühsommer desselben Jahres kamen weitere Heilige der Letzten Tage nach, die hauptsächlich aus Ohio und New York stammten. Der Prophet besuchte Missouri zwar zweimal und wohnte einige Zeitlang im nahegelegenen Ort Hiram, aber sein eigentlicher Wohnsitz war Kirtland.
Der Großteil der in Kirtland lebenden ersten HLT-Siedler zog noch vor Ende des Jahres 1831 nach Missouri. Das schnelle Wachstum der HLT-Bevölkerung Kirtlands setzte dann im Jahr 1833 ein, als die Einwohnerzahl bis zum Jahr 1838 von 100 auf 2000 stieg. In den zehn Jahren vor der Zuwanderung der Mormonen hatte sich die Bevölkerungszahl der Stadt von 481 im Jahr 1820 auf 1018 im Jahr 1830 verdoppelt. Infolge der Zuwanderung der Heiligen der Letzten Tage verdreifachte sich die Einwohnerzahl in den darauffolgenden sieben Jahren.
Ein Zeitgenosse beschrieb die Zustände in Kirtland Mitte der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts folgendermaßen: “Männer, Frauen und Kinder kamen auf jede nur vorstellbare Art und Weise: auf Pferden, Ochsen und klapprigen Fuhrwerken, während andere wiederum einen Teil oder die gesamte Strecke zu Fuß zurückgelegt hatten. Die künftige “Stadt der Heiligen” schien als ob sie belagert wäre. Jedes Haus und jedes Geschäft, jede Hütte und jede Scheune waren zum Bersten gefüllt. Sogar Holzkisten waren zweckentfremdet worden und dienten als Notunterkünfte, bis eine dauerhaftere Bleibe gefunden werden konnte.” (History of Geauga und Lake Counties, Ohio, S. 248.)
Der plötzliche Zustrom der Heiligen der Letzten Tage nach Kirtland war von entscheidendem Einfluß auf die Stadt. Zu den sichtbaren Veränderungen gehörte die Zunahme an Übergangsquartieren. Während der beiden ersten Jahrzehnte der Geschichte Nauvoos hatte die Stadt hauptsächlich aus Block- und kleinen Holzhäusern bestanden, zu denen noch vor 1830 immer häufiger kompaktere Gebäude, teils auch aus Ziegel, hinzukamen. Im Jahr 1830 bestand die halbe Bevölkerung der Stadt aus Ansiedlern ohne Rechtstitel, die in kleinen Holzhäusern lebten. Mit dem Anwachsen der Zahl der HLT-Zuwanderer bildeten sich hauptsächlich im nordwestlichen Kirtland kleine, einfache Hütten - ein Rückschritt in Richtung Armut der allerersten Siedler.
Die meisten Heiligen der Letzten Tage waren ärmer als die anderen Einwohner Kirtlands, was teils darauf zurückzuführen war, daß sie Neueinwanderer in die USA waren. Vor ihrer Taufe hatten diese Menschen nicht ständig den Wohnsitz gewechselt und hatten auch nicht zur sozialen Unterschicht gehört. Durch den Umzug nach Kirtland hatten sie einen großen wirtschaftlichen Schaden erlitten. Viele hatten in New York oder Neu-England ihre Landwirtschaften unter ihrem Wert verkauft, und viele hatten wegen der hohen Transportkosten ihre Werkzeuge und Geräte zurücklassen müssen. Einen Teil des aus dem Verkauf erzielten Geldes mußten sie zur Finanzierung der Reise für Personen und den Transport von Gütern nach Kirtland verwenden. Die wenigen Heiligen der Letzten Tage, die aus dem Kreis Jackson nach Kirtland gezogen waren, befanden sich ebenfalls in einer wirtschaftlichen Krisensituation. Bei ihrer Vertreibung aus dem Kreis Jackson im Jahr 1833 waren ihre Häuser niedergebrannt und ihr Eigentum gestohlen worden. Nach ihrer Ankunft in Kirtland sahen sie sich erhöhten Grundstückspreisen gegenüber, da diese im Verhältnis zum Bevölkerungszustrom stiegen und die meisten Zuwanderer (Mormonen wie Nichtmormen) es sich nicht leisten konnten, genügend große Parzellen zu kaufen, um ihre Familien damit zu erhalten.
Nach ihrer Ankunft in Kirtland wurden die Heiligen der Letzten Tage wirtschaftlich noch mehr ins Abseits gedrängt, da sie ihre bescheidenen Mittel und ihre Arbeitskraft der Kirche zur Verfügung stellten. Die Kirche errichtete in Kirtland zwischen dem Ostarm des Chagrin-Flusses und dem östlichen Plateau, das den Fluß überblickte, mehrere Gebäude. Das wichtigste Gebäude war der KIRTLAND-TEMPEL <Kirtland-Tempel>. Beinah drei Jahre lang (zwischen Sommer 1833 und Frühjahr 1836) bauten alle Mitglieder gemeinsam das zweistöckige “Haus des Herrn”, das als Versammlungsgebäude und Schule verwendet werden sollte. Während die Frauen und Mädchen ihren üblichen Aufgaben im Haushalt nachgingen, sich um die Kinder kümmerten, Mahlzeiten zubereiteten, nähten, strickten und im Garten arbeiteten, stellten sie auch noch die Kleidung für die Bauarbeiter und Kutschenfahrer am Tempelbau her und versorgten sie mit Mahlzeiten. Die Männer und Burschen transportierten die Steine zur Tempel-Baustelle, arbeiteten in der Landwirtschaft, schnitten Brennholz für den Winter, gerbten Felle, jagten und fischten. Außerdem fällten sie Bäume, schnitten das Bauholz für den Tempel und transportierten es zur Baustelle.
Beim Bau des Tempels wurde an die Westseite ein kleineres Gebäude angebaut, das als Schule, Druckerei und Bürogebäude verwendet wurde. Auch ein Sägewerk wurde gebaut, um die Bauarbeiten zu erleichtern, ebenso eine Gerberei, Glasschmelzerei, sowie Geschäfte und Handwerksbetriebe, die den Siedlern Waren und Arbeitsplätze boten.
Zusätzlich zu all diesen Opfer verzögerte sich für viele Männer die Erhöhung ihres Lebensstandards auch noch dadurch, daß sie gänzlich ohne Bezahlung auf Mission gingen. Während der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts verkündeten die reisenden Ältesten das Evangelium in den gesamten USA und dem östlichen Kanada. Heber C. KIMBALL <Kimball, Heber C.> führte 1837 eine Gruppe von Missionaren (von denen viele aus Kirtland stammten) nach England auf Mission.
Trotz Tempelbau und Missionsarbeit fanden die Heiligen der Letzten Tage in Kirtland Zeit für Bildung. Trotz ihres hohen, für Neu-England typischen kulturellen Niveaus und den sich ihnen in Ohio bietenden Möglichkeiten gingen doch fast alle Bildungsinitiativen auf das Konto der von Joseph Smith <Smith, Joseph> in Kirtland empfangenen Offenbarungen. Während der Prophet im Stockwerk über Newel K. WHITNEYS <Whitney, Newel K.> Laden wohnte, empfing er eine Offenbarung, die besagte: “Lehrt einander Worte der Weisheit; ja, sucht Worte der Weisheit aus den besten Büchern; trachtet nach Wissen, ja, durch Lerneifer und auch durch Glauben.” (LuB 88:118; siehe auch LuB 88:78–79; 93:36.)
Um diesem Gebot (wie auch anderen) gerecht zu werden, lud Joseph Smith 1833 ungefähr 20 Älteste dazu ein, die sogenannte SCHULE DER PROPHETEN <Schule der Propheten> zu besuchen. Nach den ersten Unterrichtsstunden gründeten die Führer der Kirche und einige Mitglieder eine Schule für Älteste, eine Grundschule sowie mehrere Privatschulen, wo Erwachsene und Jugendliche Theologie, Philosophie, Politik, Literatur, Geschichte, Geographie, englische Grammatik, Schreiben, Arithmetik, Latein, Griechisch und Hebräisch lernen konnten. Im Jahr 1836 begannen über 100 Heilige der Letzten Tage in Kirtland mit dem Studium der hebräischen Sprache. Die Frauen waren als Lehrerinnen tätig, besuchten aber auch gemeinsam mit ihren Ehemännern den Unterricht.
Um den Heiligen der Letzten Tage bei der Weiterbildung behilflich zu sein und die Missionsarbeit zu fördern, rief die Kirchenführung Anfang 1834 in Kirtland ein großangelegtes Verlagsprojekt ins Leben. Innerhalb von vier Jahren gaben die Heiligen der Letzten Tage eine Zeitschrift (Latter-day Saints’ Messenger and Advocate) <Latter-day Saints’ Messenger and Advocate, Zeitschrift in Kirtland>, eine politische Tageszeitung (Northern Times) <Northern Times, Tageszeitung in Kirtland>, ein Gesangbuch (1835), die 2. Auflage des Buches Mormon sowie eine Zusammenstellung von 102 Offenbarungen heraus, die als erste Auflage des Buches “Lehre und Bündnisse” <Lehre und Bündnisse> veröffentlicht wurden (1835) und zu dem auch die “Lectures on Faith” (Vorträge über den Glauben) <Vorträge über den Glauben> zählten. In den frühen dreißiger Jahren wurden in Missouri und Kirtland auch geschichtliche und theologische Texte herausgegeben, die heute Teil der Joseph-Smith-Übertragung der Bibel sind, ebenso Teile der “Köstlichen Perle” <Köstliche Perle> (Buch Mose).
Zusätzlich zur täglichen Arbeit und zum Lernen besuchten die Heiligen der Letzten Tage auch regelmäßig die Gottesdienste. Der Sonntag war der “Tag des Herrn”, an dem man von der Arbeit ruhte. Anfangs wurden die Gottesdienste in den Schulen oder zu Hause abgehalten. Nach dem Bau des Kirtland-Tempels fanden auch dort Versammlungen statt. Mitte der dreißiger Jahre hatte sich ein Versammlungsschema gebildet: Am Sonntagvormittag und -nachmittag gab es einen Gottesdienst, bei dem gesungen, gebetet und von Kirchenführern und anderen Mitgliedern Predigten gehalten wurden. Am Abendmahl konnte man nicht nur während des Nachmittagsgottesdienstes teilnehmen, sondern manchmal auch wochentags zu Hause. Die Konfirmierung neuer Mitglieder und Eheschließungen fanden sonntags im Tempel statt und während der Woche zu Hause. Am ersten Donnerstag des Monats fand im Tempel eine Fast- und Zeugnisversammlung statt. Viele Versammlungen dauerten von 10 Uhr vormittags bis 16 Uhr nachmittags. Es wurde gesungen, gebetet, Zeugnis gegeben und belehrt.
Während jenes Jahrzehnts gab es auch ungewöhnlich viele Pfingsterlebnisse. Kurz vor und nach der Weihung des Kirtland-Tempels - so berichteten zahlreiche Heilige der Letzten Tage - hatten sie Visionen empfangen, in Zungen geredet und den Geist der Prophezeiung empfangen. Mehrere Heilige der Letzten Tage behaupteten, während bestimmter Versammlungen, die zwischen Januar 1836 und dem frühen Mai 1836 stattgefunden hatten, den Erretter gesehen zu haben, und viele behaupteten, mit anderen Boten vom Himmel gesprochen zu haben.
Zusätzlich zu ihren zahlreichen Beschäftigungen nahmen sich die Heiligen der Letzten Tage aber auch Zeit zur Erholung. Die damals beliebtesten Freizeitbeschäftigungen waren Jagen, Fischen, Schwimmen, Schlittenfahren, Eislaufen, Ringen, Reiten und Kutschenfahrten. Die Kinder besaßen zwar wenig Spielzeug, sie vergnügten sich jedoch mit Bällen, Murmeln, Rohrpfeifen und selbstgefertigten Puppen. (Backman, S. 275–283.)
Viele der Nichtmormonen betrachteten die Zuwanderung der Heiligen der Letzten Tage als Bedrohung ihrer Lebensweise. Einige beschwerten sich darüber, daß die Praxis der Heiligen der Letzten Tage, sich den Offenbarungen eines Propheten zu unterwerfen, dem Geist der amerikanischen Demokratie widerspreche. Außerdem hätten die Heiligen der Letzten Tage, abgesehen von ihrem Glauben an Visionen, Offenbarungen und die Wiederherstellung des Evangeliums, die Armut der Stadt verschlimmert, und sie stellten eine politische und wirtschaftliche Bedrohung dar. Im Jahr 1837 erreichte der Wettbewerb seinen Höhepunkt, als die Heiligen der Letzten Tage nach den Wahlen alle Kommunalposten außer dem des Hauptwachtmeisters besetzten. Im Jahr zuvor waren lediglich vier Heilige der Letzten Tage in wichtige Ämter gewählt worden, und die allgemeine Tendenz beim Wahlverhalten war in Richtung Wiederwahl der alteingesessenen Siedler gegangen. Die Heiligen der Letzten Tage erlangten nun nicht nur die Kontrolle über die Stadtregierung, sondern sie veränderten auch das gesamte Wahlverhalten der Stadt, weil sie anstatt der Whigs nun die Demokraten zur Mehrheitspartei gemacht hatten. Da Kirtland in einem Whig-freundlichen Teil des Bundesstaates Ohio lag und in den dreißiger Jahren alle Städte des Kreises Geauga - außer Kirtland - die Whigs unterstützten, vereinigten sich die Whigs im nordöstlichen Ohio zum Widerstand gegen die Mormonen. Beschwerden und Klagen drohten in gefährliche Drohungen und Gewalt auszuarten.
Anfang 1838 - inmitten des immer stärker werdenden Drucks von außen und des Abfalls vom Glauben, der durch die Bankpleite der “Kirtland Safety Society” <Kirtland Safety Society, Bank in Kirtland> und die Wirtschaftskrise des Jahres 1837 (siehe KIRTLAND,WIRTSCHAFT IN KIRTLAND) noch angeheizt wurde - begann der Auszug der Heiligen der Letzten Tage aus der Stadt Kirtland und den umliegenden Ortschaften. Joseph Smith <Smith, Joseph>, Sidney RIGDON <Rigdon, Sidney> und andere Kirchenführer flohen im Januar vor dem Pöbel, und die anderen Mitglieder kamen ihnen allmählich nach.
Die Reise Richtung Westen ging fast ausschließlich in Kleingruppen vor sich, die aus nicht mehr als 50 Mitgliedern bestanden. Am 5. Juli 1838 fuhren über 500 Mitglieder in 59 Wagen los und nahmen 27 Zelte, 97 Pferde, 22 Ochsen, 69 Kühe und einen Stier mit auf die Reise. Dieser lange Wagenzug, Kirtland Camp <Kirtland Camp, Wagenzug in Richtung Westen> genannt, zog durch Ohio, Indiana, Illinois und Missouri und wurde von Schaulustigen begleitet. Einige sprachen ihnen Mut zu, während andere sie verhöhnten und ihnen drohten. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wurden viele gebeten, noch zurückzubleiben, so daß nur ein Bruchteil des ursprünglichen Zugs die Grenze in Missouri erreichte.
Mitte Juli 1838 hatten über 1600 Heilige der Letzten Tage aus Kirtland und Umgebung den Tempel verlassen, ihre Häuser geräumt und waren in Richtung Westen gezogen. Nur ganz wenige Heilige der Letzten Tage blieben in den Stadtvierteln voll leerer Häuser zurück. Noch vor Mitte der vierziger Jahre zogen aber auch sie in Richtung Westen.
BIBLIOGRAPHIE
Anderson, Karl Ricks. Joseph Smith: Eyewitness Accounts. Salt Lake City, 1989.
Backman, Milton V., jun. The Heavens Resound: A History of the Latter-day Saints in Ohio 1830–1838. Salt Lake City, 1983.
Hill, S. Marvin; Keith Rooker und Larry T. Wimmer. “The Kirtland Economy Revisited: A Market Critique of Sectarian Economies.” BYU Studies 17, Sommer 1977, S. 389–347.
History of Geauga and Lake Counties, Ohio. Philadelphia, 1878.
MILTON V. BACKMAN, JR.