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KANADA, HLT-PIONIERSIEDLUNGEN IN KANADA

Die Existenz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Kanada bietet eine aufschlußreiche Vergleichsmöglichkeit zu der der Kirche in den USA. Obwohl die HLT-Pioniersiedlungen in Süd-Alberta, die auf das späte neunzehnte Jahrhundert zurückgehen, eine Erweiterung des Kulturraums von Utah darstellen, haben sie dennoch eine eigene, charakteristische Entwicklung durchgemacht, weil sie am Kreuzungspunkt zweier Kulturgebiete lagen - dem kanadischen und dem der Heiligen der Letzten Tage. Zudem stellten sie auch deren Hinterland dar. Durch den ständigen kulturellen Austausch mit Utah und infolge der andauernden Hin- und Hersiedlung von Menschen ist es nicht weiter verwunderlich, daß mehrere Generalautoritäten der Kirche aus Alberta stammen, u.a. Hugh B. Brown <Brown, Hugh B.> und N. Eldon Tanner <Tanner, N. Eldon>, beides Mitglieder der Ersten Präsidentschaft.

Da die meisten frühen Mitglieder der Kirche Ostkanadas in den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu den Heiligen der Letzten Tage in den USA zogen, schwankte die Mitgliederzahl der Kirche in Kanada bis in die späten achtziger Jahre. Die ersten dauerhaften kanadischen HLT-Siedlungen in Alberta wurden von Heiligen der Letzten Tage aus Utah errichtet, die nach der zunehmend strenger gehandhabten Gesetzgebung gegen die Mehrehe (siehe MEHREHE, GESETZGEBUNG GEGEN DIE ...; VERFOLGUNGEN) geflüchtet waren. Unter der Führung von Charles Ora Card <Card, Charles Ora> ließen sie sich 1887 in der Nähe des heutigen Cardston nieder und begannen mit der Landwirtschaft.

Card, ein bekannter Politiker und Kirchenfürer im Cache-Tal von Utah, wurde im Juli 1886 wegen Ausübung der Mehrehe verhaftet worden. Nach gelungener Flucht suchte er John TAYLOR, den damaligen Präsidenten der Kirche auf, der zum Zeitpunkt seiner Bekehrung aus Großbritannien gebürtiger kanadischer Staatsbürger gewesen war. Taylor wies Card an, nach Kanada zu gehen und sich unter britische Justiz zu stellen. Präsident Taylors Sohn, John W. Taylor <Taylor, John W.>, seines Zeichens Apostel, Unternehmer und Mensch mit Vision, gesellte sich zu Card und half bei der Gründung der ersten kanadischen HLT-Siedlungen.

Im Herbst des Jahre 1886 entschieden sich Card und zwei seiner Gefährten für das südwestliche Alberta, einer Gegend mit fruchtbarem Ackerland, genügend Wasser für die künstliche Bewässerung, Holz und Kohle, und in der Nähe des Reservats der Blood-Indianer, die man zu bekehren hoffte. Am 26. April 1887 wurde der Ort Cardston gegründet, die Gemeinde Cardston des Pfahles Cache im darauffolgenden Jahr. Im Jahr 1891 lebten 359 Heilige der Letzten Tage dort.

Infolge des langjährigen Konflikts zwischen amerikanischer Regierung und Mormonen stellten sich kanadische Presse und Politiker gegen die Besiedelung Kanadas durch die Mormonen. Örtliche Befürworter und kanadische Regierungsbeamte hingegen begrüßten die Niederlassung der Farmer, die in der Bewässerung extrem trockener Gebiete, wie eben Utah, erfahren waren. Was die Mehrehe betraf, so war der negative Standpunkt der kanadischen Regierung klar. Als die Kirche im November 1888 um Genehmigung ersuchte, in Mehrehe lebende Familien nach Kanada umsiedeln zu dürfen, erließ die kanadische Regierung auf der Stelle ein Gesetz gegen die Mehrehe. Nach der Amtlichen Erklärung der Kirche aus dem Jahr 1890 (siehe MANIFEST), die das offizielle Ende der Mehrehe bedeutete, ließ der Widerstand gegen die Kirche in Kanada jedoch größtenteils nach.

Die neuen Besiedler Kanadas konnten bei der Bewältigung ihrer Herausforderungen glücklicherweise aus ihren früheren Erfahrungen schöpfen. Die “Cardston Company”, eine Aktiengesellschaft, beschaffte das Kapital für gemeindienliche Einrichtungen, wie z.B. die Mühle, die Käserei, Drescherei, das Sägewerk usw. Ein Teil des Kapitals wurde von Cards Ehefrau Zina, einer Tochter Brigham Youngs, zur Verfügung gestellt, vormals Universitätsprofessorin und Frauenrechtlerin, die für viele kanadische Mormoninnen ein großes Vorbild war. Der wirtschaftliche Erfolg der Heiligen der Letzten Tage förderte den Abbau gesellschaftlicher Schranken zwischen ihnen und anderen Siedlern. Mehrere Jahre der Dürre in den frühen neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts stellten die Notwendigkeit der künstlichen Bewässerung des Ackerlandes unter Beweis und zeigten die Erfolge der Heiligen der Letzten Tage bei kleineren Bewässerungsprojekten.

Zu Anfang der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts kam eine zweite Welle von HLT-Immigranten aus wirtschaftlichen Gründen nach Kanada. Die Teilhaber der Galt-Kohlmine in Lethbridge bildeten mit Card ein Konsortium, in der Hoffnung, daß durch Bewässerung des Landes größere Grundstücke an Landwirtschaftsspekulanten verkauft werden könnten, da Card die Möglichkeit eines großangelegten Kolonisierungsprojektes durch HLT-Farmer gewittert hatte. Der aus dem Jahr 1898 stammende Vertrag zwischen der Galt-Mine und der Kirche lockte HLT-Unterhändler, Arbeiter und Transportgewerbler nach Alberta, wo Bewässerungssysteme errichtet werden sollten und die meisten Farmer sich auf Dauer niederlassen wollten. Der Bewässerungskanal wurde im Jahr 1900 fertiggestellt und Lord Minto <Minto, Lord>, der kanadische Generalgouverneur, sowie George Q. Cannon <Cannon, George Q.> und Joseph F. SMITH <Smith, Joseph F.> von der Ersten Präsidentschaft wohnten der Eröffnung bei.

Diese neuen HLT-Siedler fanden zahlreiche neue Ortschaften vor, u.a. die Orte Magrath und Stirling. Die starke Bevölkerungszunahme und die zunehmende Zuwanderung aus den USA rund um Cardston während der späten neunziger Jahre und nach der Jahrhundertwende veranlaßten die neuen HLT-Siedler, sich in Beazer, Kimball, Leavitt, Taylorville, Woolford, Jefferson und Del Bonita niederzulassen.

Eine neuerliche Besiedlungswelle begann in den Jahren 1902/1903, als der wohlhabende Minenbesitzer aus Utah, Jesse Knight <Knight, Jesse>, in Raymond eine Zuckerfabrik errichten ließ. Die Heiligen der Letzten Tage spielten sowohl beim Anbau als auch im Management der Zuckerfabrik eine wichtige Rolle. Die Zuckerrübenindustrie ist heute noch ein wichtiger Teil der Wirtschaft des südlichen Alberta.

Im Jahr 1906 erwarb E.J. Wood <Wood, E.J.>, der Charles O. Cards Nachfolger als Pfahlpräsident des Pfahles Alberta wurde, eine riesige Ranch, wodurch über hundertvierzig Quadratkilometer besiedelt und die Orte Glenwood (1908) und Hillspring (1910) entstanden. Auch die Besiedelung der Gebiete außerhalb des Kerngebietes im südwestlichen Alberta, nämlich Barnwell, Taber, Orton und Frankburg geht auf HLT-Siedler zurück. Auf diese Weise wurden die künstliche Bewässerung, Besiedlungsssysteme <Stadtplanung>, Wirtschaftskooperative sowie ein reges kulturelles, gesellschaftliches und religiöses Leben von Utah in das südliche Alberta weiterverpflanzt. Bis zum Jahr 1911 hatten die Heiligen der Letzten Tage in Südalberta achtzehn neue Ortschaften gegründet, und allein im südwestlichen Alberta lebten zehntausend Heilige der Letzten Tage, in erster Linie Farmer und deren Familien.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellten viele junge kanadische Heilige der Letzten Tage ihre Treue zur Heimat unter Beweis, indem sie sich freiwillig zum kanadischen Militär meldeten. Um eventuelle Zweifel hinsichtlich ihrer Vaterlandsliebe aus dem Weg zu räumen, hatten noch vor dem Krieg die Führer der Kirche mehrere junge Mormonen, z.B. Hugh B. Brown <Brown, Hugh B.>, gebeten, die Offizierslaufbahn zu ergreifen und andere ebenfalls dazu zu überreden. Bis zum Jahr 1915 hatten sich über 200 junge Mormonen aus der Gegend von Cardston freiwillig gemeldet.

Die Leistungen der Pioniere, vaterländische Gefühle während des Krieges und ganz einfach der Lauf der Zeit führten zu einer wachsenden Identifizierung der Heiligen der Letzten Tage mit Alberta und Kanada, die durch die Weihung des Tempels in Cardston durch Präsident Heber J. GRANT <Grant, Heber J.> im Jahr 1923 noch verstärkt wurde. In den kleinen, starken Orten wuchs eine neue Generation von in Alberta geborenen und ausgebildeten Heiligen der Letzten Tage heran. Automobil, Straßenbau und Telefon durchbrachen die ländliche Isolation. Amateursportwettbewerbe, Musik, Theater, Schulveranstaltungen, Picknicks und Rodeos fanden statt wie noch nie zuvor. Die Heiligen der Letzten Tage in Alberta kamen in zunehmendem Maße mit vielen anderen Religionen und Völkern in Kontakt, zum Beispiel mit den Hutterern, Japanern und Osteuropäern, die zwecks Arbeit in der Zuckerindustrie nach Alberta kamen.

Sportliche Rivalitäten zwischen den Nachbarorten festigten die Begeisterung für den eigenen Heimatort. Die kleinen HLT-Ortschaften in Südalberta waren provinzweit jahrzehntelang Meister im Basketball der Männer und dienten als Talentschmiede zahlreicher Provinz- und Nationalspieler im Basketball.

Trotz ihres aktiven kulturellen Lebens erging es einigen HLT-Siedlungen in der Zeit großer landwirtschaftlichen Wachstums und Erfolgs nicht besonders gut. Magrath und Raymond hatten in der Zeit unmittelbar nach ihrer Gründung ein ziemliches Wachstum zu verzeichnen. Im Jahr 1906 hatte Magrath 884 Einwohner und Raymond 1568. Aber infolge des geringen landwirtschaftlichen Hinterlands stellte sich dieses Wachstum schon bald ein und hörte nach 1911 überhaupt auf. Beide Orte verfügten über eine bescheidene bodenständige Industrie, die bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts erhalten werden konnte. In Raymond bestand eine Zuckerfabrik und in Magrath eine Spinnerei und Konservenfabrik. Wegen ihres größeren landwirtschaftlichen Hinterlands und des Tempels blieb Cardston die größte überwiegend von Heiligen der Letzten Tage bewohnte Stadt. Cardstons Bevölkerung wuchs von 1.000 Einwohnern im Jahr 1906 langsam auf 2000 Einwohner gegen Ende der zwanziger Jahre.

Während der zwanziger Jahre begannen viele kanadisch-gebürtige Heilige der Letzten Tage sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen. Einige zog es in die Städte Albertas oder in die anderen kanadischen Provinzen, andere wiederum in die Vereinigten Staaten. Die Kirche in anderen Teilen Kanadas hat ihr Wachstum häufig Heiligen der Letzten Tage in Führungspositionen zu verdanken die, aus Südalberta kommend, sich anderswo niedergelassen hatten.

Nach schweren finanziellen Schicksalsschlägen während der Weltwirtschaftkrise in den dreißiger Jahren sammelten sich viele Heilige der Letzten Tage in der “Social- Credit”-Partei, die in Alberta im Jahr 1935 an die Macht gekommen war und bis zum Jahr 1971 nie mehr abgewählt wurde. Zahlreiche HLT-Kommunalpolitiker unterstützten die Geldreform, darunter der ehemalige Rektor der Highschool von Cardston, N. Eldon Tanner, der von den späten dreißiger bis zu den frühen fünfziger Jahren Minister in der kanadischen Regierung gewesen war, sowie die ehemaligen Schullehrer John Blackmore <Blackmore, John> und Solon Low <Low, Solon>, beides Parteiführer auf nationaler Ebene. Zahlreiche andere Mitglieder der Kirche waren Mitglieder der Provinzregierung. Die drei größten Städte Albertas haben jeweils schon Bürgermeister gehabt, die Mitglieder der Kirche waren.

Seit 1947 haben die gewaltigen Öl- und Erdgasfunde Alberta völlig verändert. Infolge des neuen Wohlstands und der Mechanisierung der Landwirtschaft sind viele Heilige der Letzten Tage in die Städte umgezogen, die nun zu den Zentren des Lebens der Heiligen der Letzten Tage geworden sind. In Calgary gab es bald mehr Heilige der Letzten Tage als in allen anderen HLT-Siedlungen des südlichen Alberta. Die ehemals fest zusammenhaltenden, ländlichen, auf wenige Orte geographisch konzentriert lebenden Heiligen der Letzten Tage Kanadas werden immer mehr zu einer städtischen, mittelständischen, verstreut lebenden Gruppe. So sie aus Alberta stammen, haben sie jedoch ihre starken kulturellen, religiösen und verwandtschaftlichen Bande mit den US-amerikanischen Heiligen der Letzten Tage nicht aufgegeben, fühlen sich aber als vollwertige Mitglieder der kanadischen Gesellschaft.

BIBLIOGRAPHIE

Card, Brigham Y., u.a., Hrsg., The Mormon Presence in Canada. Edmonton and Logan, 1989.

Lethbridge Stake Historical Committee und Melvin S. Tagg. A History of the Mormon Church in Canada. Lethbridge, Alberta, 1968.

RICHARD C. BENNETT