[Dieser Beitrag enthält vier Artikel: Heilige Schriften; Die Autorität der heiligen Schriften; Die Worte lebender Propheten und Zukünftige Heilige Schriften. Ursprung und Geschichte der Heiligen der Letzten Tage ist mit den neuzeitlichen sowohl als den heiligen Schriften voralters eng verbunden. Der Artikel Heilige Schriften legt die Ansichten Heiliger der Letzten Tage betreffs ihrer maßgebenden Schriften im Vergleich mit Überlieferungen weiterer Schriften und Konzepte dar. Die Autorität der heiligen Schriften bespricht die Rolle, die diese Schriften gemäß den Glaubensprinzipien und Ausübungen der Heiligen der Letzten Tage spielen. Der Essay Die Worte lebender Propheten konzentriert sich mehr auf eins der bedeutsamen Glaubensprinzipien Heiliger der Letzten Tage, nämlich göttliche Offenbarung anhand neuzeitlicher Propheten. Der Schlussbeitrag, Zukünftige Heilige Schriften, befasst sich mit der für Heilige der Letzten Tage in den Schriften verwurzelten Erwartung, dass weitere heilige Schriften durch Gott offenbart werden sollen.]
SCHRIFTEN: DIE HEILIGEN SCHRIFTEN
Obwohl sich der Ausdruck “heilige Schriften” normalerweise nur auf schriftliche Dokumente bezieht, lässt sich aus den Quellen Heiliger der Letzten Tage erschließen, dass „was auch immer sie [die Diener Gottes] bewegt vom heiligen Geist reden, wird heilige Schrift sein“ (LuB 68:2-4; vgl. 2 Petrus 2:21; 2 Tim. 3:16). Dieses erweiterte Verständnis der Benennung ist eine allumfassende und funktionsmäßige Begriffserklärung, die das schriftliche sowohl als das gesprochene Modus der Inspiration berücksichtigt.
Das Schrifttum Heiliger der Letzten Tage ist wesentlich größer als das des herkömmlichen protestantischen Kanons. Es enthält die Bibel, das Buch Mormon (702 Seiten), Lehre und Bündnisse (381 Seiten) und die Köstliche Perle (81 Seiten). Von Anbeginn war die Bekennung Heiliger der Letzten Tage zur Bibel und dem Buch Mormon, und ihr Versuch Lehren und Grundsätze sofort im Sinne ihres kulturellen Umfeldes formulieren und standardisieren zu wollen, das, was sie als ein „gelehrtes“ Volk kennzeichnete. Der Judaismus, das historische Christentum und der Islam hingegen brauchten eine verhältnismäßig lange Zeit zur endgültigen Sammlung, Festlegung und Kanonisierung ihrer Schriften, was zur Folge hatte, dass es jeweils zu einem geschlossenen Kanon führte.
Heilige der Letzten Tage akzeptieren die Bibel als das Wort Gottes, „soweit [sie] richtig übersetzt ist“ (GA, 8). Das heisst, obwohl die Boschaft der heiligen Schriften göttlichen Ursprungs ist, sind ihre Worte von unzulänglicher Menschenhand bekleidet worden (vgl. Morm. 8:16-17; Ether 12:23-27). Das Titelblatt des Buches Mormon sagt aus: „Und wenn darin Mängel sind, so sind es die Fehler von Menschen; darum verurteilt nicht, was von Gott kommt.“ Für manche ist solch ein Zugeständniss stärkend und nicht schwächend in Bezug auf Offenbarung (Stendahl, 100). Ein solcher Standpunkt vermeidet beides: das Dogma der Unfehlbarkeit der Bibel, und der naturalistischen Haltung, dass die Bibel ein völlig von Menschen erstellter- und obendrein veralterter Bericht sei.
Die heiligen Schriften der Kirche Jesu Christi HLT werden ab und zu auch als ihre „Standardwerke“ bezeichnet. Die Benennung „Kanon“ ist wenig im Umlauf, eben weil diese Bezeichnung zum Teil Entgültigkeit, Vollständigkeit und Abgeschlossenheit konnotiert. Dieser Tatsache und jenem Prinzip entsprechend finden inspirierte Ergänzungen, amtliche Erklärungen und Übersetzungen betreffs der Standardwerke gelegentlich statt. Dieses Verfahren geschieht auf zweierlei Ebenen: (1) Die z. Z. lebenden Führer der Kirche schlagen etwas gemäß dem Gesetz der allgemeinen Zustimmung vor. (2) Die Mitgliedschaft der Kirche bestätigt ihr Vorhaben. Auf diese Weise binden Heilige der Letzten Tage sich durch einen Bund jene Offenbarungen als heilige Schriften zu akzeptieren. Ein neuzeitliches Ergänzungsbeispiel wäre die durch Joseph Smith erhaltene Offenbarung betreffs des celestialen Reiches, und Joseph F. Smiths Vision bezüglich der Erlösung der Toten, die den Lehre und Bündnisse hinzugefügt worden sind (LuB 137, 138).
Aus dieser Sicht sind die Schriften unbefristet und unaufhörlich. Sie sind ein sich ewig ergänzender Korpus, erstellt durch Bestätigungen lebender Zeugen in einem Milieu göttlicher Kundgebung und menschlicher Bezeugung. Demzufolge dienen sie sogleich als Zeichen und als Symbol der Glaubensinklusivität Heiliger der Letzten Tage (Davies, 61). Zugegebenerweise widerspricht ein solcher Standpunkt den Auffassungen der Minimalisten und „Finalisten,“ die darauf bestehen, dass „ein Kanon genug ist.“ Die Samariter z. B. bewilligten nur die Fünf Bücher Mose (Pentateuch) als Kanon. Für Heilige der Letzten Tage sind die heiligen Schriften keine „entgültige Offenbarung.“ Deswegen besteht für sie kein unausdehnbarer „Kreis des Glaubens.“ Kein heiliger Text verbietet die Zugabe weiterer heiliger Bücher wegen ihrer anerkannten Heiligkeit. Kein Dokument, keine Kollektion besitzt demnach „völlige Hinlänglichkeit“ betreffs Errettung, Erlösung, vollkommener Erleuchtung, oder Vervollkommnung der Seele.
Zwei Grundsätze treten beim Definieren heiliger Schriften zum Vorschein: (1) Man wird nur mit Hilfe des Heiligen Geistes klarstellen können, ob jemand mit der Autorität des Heiligen Geistes spricht. Folglich liegt die Last der Beweisführung in Hinsicht auf den Status sogenannter heiligen Schriften letztendlich beim Leser und Hörer des Wortes (vgl. Brigham Young, JD 7:2). Heilige der Letzten Tage lehren, dass alle Menschen zu dieser Zusicherung berechtigt sind und ein Zeugnis erlangen können. (2) Der Präsident der Kirche und diejenigen, die mit ihm als Propheten, Seer und Offenbarer wirken, empfangen ein besonderes geistiges Endowment und einen bestimmten Zuständigkeitsbereich. Nur der Präsident spricht und schreibt an und für die gesamte Kirche. Andere fungieren auf gleiche Art, aber tun es nur innerhalb der Einschränkungen ihrer Ämter und Berufungen. Ferner, „ein Prophet [ist] nur dann ein Prophet, wenn er als solcher tätig ist“ (LPJS, 234; 1963 2. Auflg.). Diejenigen, die von Amts wegen zum Führen berufen und ordiniert worden sind, sind der Benennung „Heilige der Letzten Tage“ nach das „lebenden Sprachrohr,“ und „wo das lebende Sprachrohr des Herrn nicht gegenwärtig ist, ist auch kein Reich Gottes gegenwärtig“ (WJS, 156). Nur der Präsident der Kirche trägt zugleich die Verantwortung und die Last alle Schlüssel für die Verwirklichung der Dar- und Klarstellung der heiligen Schriften. Diese Grundsätze und Handlungen sind dazu da, die Heiligkeit inspirierter mündlicher oder schriftlicher Kundgebungen und deren vergangene oder gegenwärtige Anwendung und Auslegung zu sichern und zu stärken.
Über der Autorität des schriftlichen Berichtes steht die Vollmacht lebender Propheten, und darüber hinaus regiert der Herr selber als oberste Autorität. „Ihr mögt euch die Bibel zu eigen machen,“ meinte Joseph Smith, „aber es sei denn ihr glaubt an sie, und ihr empfangt Offenbarungen, wird euch die Bibel wenig nützen“ (Osborne). Ferner, „Der beste Weg, um Wahrheit und Weisheit zu erlangen, ist nicht der, sie in Büchern zu suchen, sondern im Gebet zu Gott zu gehen und göttliche Belehrungen zu empfangen“ (LPJS, 161; 1963, 2. Auflg.). Brigham Young behauptete, „Ich hätte lieber das lebende Sprachrohr an Stelle von dem, was in den Büchern geschrieben steht“ (Siehe CR, Okt. 1897, 22-23). Das soll aber nicht heißen, dass das lebende Sprachrohr, einschließlich verantwortungsbewusster Laien, theoretisch oder traditionsmäßig, vom geschriebenen Wort vollkommen unabhängig ist. B. H. Roberts, eine Generalautorität und HLT Kirchenhistoriker, schrieb über den gesamten Korpus der heiligen Schriften: Er [der Korpus] setzt die allgemeinen Wahrheiten, die Gott offenbart hat fest. Er bewahrt für alle Zeiten und Generationen der Menschheit das großartige Gefüge des Plans der Errettung – das Evangelium. Er offenbart gewisse Wahrheiten, die nicht von ständig wechselnden Verhältnissen und Situationen beeinflusst werden. Es sind ewiglich unveränderliche Wahrheiten, ungeachtet wie oft sie offenbart worden sind; grundlegende, beständige, festehende Wahrheiten, die keine Abweichungen ohne Verdammung zulassen. Das geschriebene Wort Gottes schützt Gottes Kinder vor törichten und vergeblichen Überlieferungen, die gemäß den Strömungen des Lebens durch Veränderungen, Ergänzungen und Reduzierungen im unbeständigen und hinreissenden Sinnespiel des Menschen verdreht worden sind. Diese göttlichen Aufzeichnungen erstellen einen Standard, anhand dessen sich selbst das lebende Sprachrohr Gottes messen, berichtigen und unterweisen kann. Sie rückt die Macht die mündlichen Worte und den Dienst des lebenden Sprachrohrs bestätigen zu können in greifbare Nähe und fügt somit Glaube zu Glaube und Erkenntnis zu Erkenntnis [IE 3 (May 1900):576-77)].
Beim Judaismus hingegen wurde das Ersetzen von Propheten durch Rabbiner und Gelehrte als Treuhändler und Interpreten des Tanaks, zum Äußersten getrieben. Im Midrash heisst es, „Selbst wenn sie [die Weisen] dir sagen das links rechts ist und rechts ist links – horcht auf ihre Worte“ (Midrash Siphre on Deut. 17:10-11; cf. Jerusalem Talmud tractate Horayoth 1:1, 45d). Beschwichtigungen betreffs Fehler, ja selbst gemeinschaftliche Fehler, wurden mit der Zusicherung gegeben, dass selbst gesetzliche Fehlentscheidungen bindend seien. In einem dramatischen Rechtsfall behauptete der Rabbiner Eliezer, dass eine Stimme aus dem Himmel seine Minderheitsansichten sanktioniert hatte. Aber der Rabbiner Josuah bestand darauf, dass der Torah oder schriftliche Texte sich nicht im Himmel sondern auf Erden befinde und dass Mehrheitsansichten den Vorrang haben müssen (Siehe auch Davies, Paul and Rabbinic Judaism, 1980, 374, 212n).
Innerhalb des historischen Christentums bestanden ekklesiastische Konzile auf ähnliche Berechtigungen. Im Rahmen der Bedeutung heiliger Schriften haben Heilige der Letzten Tage diese und weitere Spannungen herabgesetzt, Spannungen, wie sie beim biblischen und talmudischen Judaismus noch stets spürbar sind (d.h. zwischen dem schriftlich und mündlich festgelegtem Gesetz). Reibungen hinsichtlich der Überlieferungen der römisch-katholischen Christenheit und denen des Östlichen Christentums bestehen zwischen dem biblischen Erbe und den beiderseitigen Forderungen ihrer Tradition und den offiziellen Klarstellungen ihrer Credos. Beim Protestantismus liegt die Spannung zwischen dem ursprünglichen Vorsatz in Verbindung mit dem Geist der Heiligen Schrift und der Forderung, dass persönliche Exegese berechtigt und gültig ist.
Die Vorstellung eines offenen Kanons bedeutete, historisch gesehen, eine gewisse Empfänglichkeit hinsichtlich apokryphischer und pseudepigraphischer Quellen. Neuzeitliche heilige Schriften versichern Heiligen der Letzten Tage, dass wesentliche Berichte auch zukünftig noch ans Licht treten werden (vgl. 2 Ne. 29:10-14; GA 9). Die Apokryphen des Alten Testamentes enthalten viele Wahrheiten, aber auch viele Interpolationen (LuB 91). „Diejenigen, die den Wunsch haben, ihnen soll der Heilige Geist gegeben werden das Wahre vom Falschen unterscheiden zu können“ (HC 1:363). Damit übereinstimmend wurden kürzlich entdeckte Dokumente (z.B. die Schriftrollen vom Toten Meer, die Nag Hammadi Funde, oder Aufzeichungen und Fragmente ähnlicher Art) zwar als lehrreich betrachtet aber keineswegs als kanonisch eingestuft. In einigen Fällen erwarten oder hallen diese Aufzeichnungen sogar echte, auf den heiligen Schriften beruhende Kundgebungen, wider.
Die Bedeutsamkeit linguistischer, kontextbezogener, historischer und literarischer Vorgehensweisen betreffs der heiligen Schriften wurde durch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verschiedenartig hervorgehoben. Zum Beispiel rief man eine Schule der Propheten schon bei Anbeginn der Kirche ins Leben. Hier lernte man Hebräisch, Griechisch und Deutsch als Mittel zum Bibelstudium. Die Joseph Smith Übersetzung (JSÜ) der King-James-Bibel und weitere Ausgaben der Bibel kamen auch in Gebrauch. Ferner gab man der King-James-Bibel, wegen ihrem hohen literarischen Wert und ihrer Verfügbarkeit in Verbindung mit anderen christlichen Gemeinschaften, den Vorrang. Auch verwendete man neben diesen Ausgaben der Bibel neuzeitliche heilige Schriften, einschließlich kritischer Texte und die auf die Bibel bezogenen Wörterbücher. Zuguterletzt verwertete man selektiv den Ertrag einer aufkeimenden, weltweiten Bibelwissenschaft (Siehe Bibelwissenschaft).
Myriaden von Bedeutungen begleiten das Konzept lebender Kundgebung, die einer lebenden prophetischen Stimme entspringen. Darüber hinaus ist die lebendige Stimme im allgemeinen reichhaltiger als Geschriebenes, welches bestenfalls eine Cryptosynopse darstellt. In diesem Sinne erklärte praktisch der Prophet Joseph Smith, vertraue niemals einem Schreiben, dessen Inhalt persönlich hätte mitgeteilt werden können. „Ungeachtet deiner reinen Absichten, und ungeachtet deines eigenen hohen Standes, du wirst nie das Herz eines Menschen in Abwesenheit so rühren können, als wenn du selber da wärst“ (Woman’s Journal 3 [April 1, 1875]:162). Das Spektrum möglicher Missverständnisse erweitert sich enorm, wenn einem nur das geschriebene Wort zur Verfügung steht.
In der Entwicklungsgeschichte des Kanons zeugen verschiedene Phasen oder Perioden von Exegesen, Erweiterungen, Glossen und stilistischer Neuerungen dafür, dass der Inhalt der Schriften auch verändert worden war. Man kann beiderseits argumentieren, ob im Laufe der Jahre dieses Verfahren tatsächlich zur textlichen Verstärkungen und Aufbesserung beigetragen-, oder ob es zu Abweichungen, Verwässerungen und textlicher Korruptionen geführt hat. Heilige der Letzten Tage nehmen beide Vorgänge wahr. „Unwissende Übersetzer, nachlässige Abschreiber oder arglistige, verdorbene Priester haben viele Irrtümer hineingebracht“ (LPJS, 276; 1963, 2. Auflg.). Andererseits, sind die Texte der Bibel – und auch andere – erstaunlich gut mit ausreichendem Licht zu segnen oder zu verdammen, bewahrt worden. Was Heilige der Letzten Tage betrifft, sie vertrauen letztendlich der Inspiration des Heiligen Geistes.
H. J. Schoeps stellte zum Beispiel klar, dass die Kritiken jüdischer Gelehrte bezüglich Tempel- und Opfervorstellungen verändert worden waren, als man die Bibel zusammenstellte (Davies, 61). Im Laufe der Jahrhunderte haben diese Modifizierungen mehr zur Distanzierung anstatt Veredelung und Verfeinerung der ursprünglichen christlichen Normen und Handlungen geführt.
Die offenbarende Macht einer heiligen Schrift hängt teilweise von ihrer qualitativen Anpassungsfähigkeit ab. Betreffs neuzeitlicher heiligen Schriften, und als natürliche Folgerung aller frühen heiligen Schriften, erläuterte der Herr, „diese Gebote sind von mir und sind meinen Knechten in ihrer Schwachheit, nach der Weise ihrer Sprache gegeben worden, damit sie Verständnis erlangen können“ (LuB 1;24).
Klarer Sinngehalt war schon immer ein führendes Prinzip der Exegese Heiliger der Letzten Tage. „Meine Seele erfreut sich an Klarheit,“ sagt der Prophet Nephi im Buch Mormon (2 Ne. 31:3). Nichts kann die klare Bedeutung eines Textes außer Kraft setzen (cf. Talmudic tractate Shabbath 63a). Dieser Standpunkt ist weder eine Zurückweisung feinsinnige und vielschichtige Bedeutungen im Text erkennen zu wollen, noch ein theologisches a priori um allegorische Exzesse zu billigen. (Wie es z.B. bei einigen Rabbinern und Gelehrten des Christentums voralters der Fall war). Tiefere Bedeutungen können nicht einfach in einen Text eingeblendet werden. Durch Gottes Hilfe muss der Geist und die Absicht des ursprünglichen Autoren wiederentdeckt werden (vgl. 2 Pet. 1:20-21). Trotz all ihrer Komplizierheiten und Viefältigkeiten sind die heiligen Schriften in einer einfachen Sprache verfasst worden; z.B. das Arbeitsvokabular des Buches Mormon umfasst weniger als 2300 grundlegende Worte.
Heilige der Letzten Tage würdigen ihrer Nutzung gemäß gewisse Texte, jeden nach eigenem Maß und eigener Autoritätskraft. Zum Beispiel, Gebete mit exaktem Wortlaut sind für die Taufe und das Abendmahl festgelegt (Siehe Taufgebet; Gebet). Weitere maßgebende Texte und Begriffe – mit unterschiedlichen Ebenen von Autorität – einschließlich Botschaften der Ersten Präsidentschaft, Tempelverordnungen, Patriarchalische Segen, Hymnen, Handbücher zur Anleitung von Priestertums- und Hilfsorganisationen, und Leitfäden für die verschiedenen Gemeindeorganisationen, zählen dazu.
Glaubenseinheit, oft als bermerkenswert gesehen, entspringt einerseits der ungewöhnlichen Empfänglichkeit für weiterer Offenbarung und andererseits dem System von „checks and balances“ (Gewalteinteilungssystem) der Kirche. Das Mitwirken von Laien in der Kirche, was die Aufteilung von Verantwortlichkeiten beinhaltet, arbeitet im Einklang mit der Vorgehensweise des Gesetzes der allgemeinen Zustimmung, d.h. dem Vorstellen, Bestätigen und Annehmen göttlicher Kundgebungen.
Für Heilige der Letzten Tage lassen sich die heiligen Schriften nicht auf wissenschaftliche Geschichte, Soziologie oder Volkstümliches reduzieren. Sie sind weder eine Anreihung von einfachen Grundsätzen und Geboten, noch das Beispiel eines Justizapparates oder reizvollen parabelförmigen Berichten. Sie bestehen auch nicht einfach aus esoterisch-geheimen Namen mit mystischen Verbindungen, die Macht und Lebenseigen sind. Die heiligen Schriften sind das Ergebnis einer Flut göttlichen Lichtes, dessen gegenwärtige Bedeutung und Wichtigkeit betreffs des Menschen nur durch mühsames Studium und direkte Inspiriration erschlossen werden kann.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber beanstandete die Vorstellung des Torahs als eine geschlossene Welt und schrieb, „Für dich ist Gott jemand, der einmal erschaffen hat und nie wieder; aber für uns ist Gott derjenige, der das Werk seiner Schöpfung täglich erneuert. Für dich ist Gott jemand, der sich ein einziges Mal offenbarte und nie wieder; aber für uns ist er derjeninge, der aus dem brennenden Dornenbusch der Gegenwart spricht... in der Offenbarung unseres innersten Herzens – tiefer als mit Worten“ (S. 204). Diese Äußerung umfasst Vieles gemäß der Art und Weise, wie Heilige der Letzten Tage die heiligen Schriften verstehen. Bedeutung und Macht steigen trotz verhärtenden Überlieferungen empor und untermauern das Vertrauen in lebende Zeugen jenes Geistes, der sie erleuchtet, sie aufklärt und Gottes Schriften als „gegenwärtige Wahrheit“ heiligt.
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W. D. DAVIES
TRUMAN G. MADSEN
SCHRIFTEN: DIE AUTORITÄT DER HEILIGEN SCHRIFTEN
Das Konzept „heilige Schriften“ beinhaltet für Heilige der Letzten Tage zwei ergänzende Begriffsbestimmungen – eine breite Definition, die alle Offenbarungen Gottes als „heilige Schrift“ anerkennt, und eine engere Betrachtungsweise, die nur die vier heiligen Schriften oder Standardwerke der Kirche als „heilige Schriften“ umschließt. Beide Kategorien sind auf ihre Weise autoritär, weil beide als von Gott herrührend betrachtet werden.
Die erster Definition sieht „heilige Schriften“ als gleichbedeutend mit „inspiriert“ oder „göttlich offenbart.“ Betreffs diejenigen, die berufen und ordiniert worden sind, Gottes Wort zu verkünden, dient eine Offenbarung in Lehre und Bündnisse als folgende Grundlage: „Und was auch immer sie, bewegt vom Heiligen Geist, reden werden, wird heilige Schrift sein, wird der Wille des Herrn sein, wird der Sinn des Herrn sein, wird das Wort des Herrn sein, wird die Stimme des Herrn sein und die Macht Gottes zur Errettung“ (LuB 68:4). So gesehen haben Heilige der Letzten Tage große Hochachtung betreffs den Kundgebungen ihrer Kirchenführer, ganz gleich auf welcher Ebene sie wirken. Besonders maßgebend sind the amtlichen Erklärungen der Ersten Präsidentschaft und des Kollegium der Zwölf Apostel, da sie von der Mitgliedsschaft als „Propheten, Seer und Offenbarer“ bestätigt worden sind. Ihre Schriften und Ansprachen – insbesondere die der Generalkonferenzen – werden des öfteren als maßgebende Richtschnur fürs Leben und zum Zweck der Interpretation zitiert. Aussagen der Ersten Präsidentschaft verkörpern die offizielle Haltung und Richtlinien der Kirche.
Der Prophet Joseph Smith sagte dass „ein Prophet nur dann ein Prophet sei, wenn er als solcher tätig ist“ (LPJS, 234; 1963, 2. Auflg.). Dementsprechend stehen die Worte der Propheten der Macht einer heiligen Schrift nur dann gleich, wenn sie unter dem Einfluss des Heiligen Geistes geäußert worden sind. Heilige der Letzten Tage erkennen den göttlichen Einfluss in den Lehren und dem Rat ihrer Kirchenführer durchaus an, und erachten es als ein Vorrecht von ihnen unterwiesen zu werden. Sie betrachten diese inspirierten Anweisungen als „heilige Schrift,“ folglich der obenbenannten breiten Definition, und sie versuchen ihr Leben im Einklang mit diesen Anweisungen zu bringen.
Die engere Definition einer „heiligen Schrift“ würde nur das miteinbeziehen, was man als „die heiligen Schriften“ bezeichnet, nämlich die vier Standarwerke der Kirche: Die Bibel, das Buch Mormon, die Lehre und Bündnisse, und die Köstliche Perle. Sie machen den Kanon, den maßgebenden Korpus offenbarter Schriften aus, das Maß nachdem sich alles in der Kirche richtet. Präsident Joseph Fielding Smith schrieb, „Meine eigenen Worte, und die Lehren irgendeines anderen Kirchenmitgliedes, ungeachtet seines hohen oder niedrigen Standes, wenn nicht mit den Offenbarungen Gottes übereinstimmend, sollten nicht akzeptiert werden.... Wir erkennen die vier Standardwerke als Maßstab oder Kontrolle an, und demgemäß wägen wir die Lehren eines jeglichen Menschen ab“ (DS 3:203).
Obwohl den Ansichten der Kirche nach die heiligen Schriften einen Kanon im strengsten Sinne des Wortes darstellen, sollten sie nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Die Lehre bezüglich fortwährender Offenbarung ist ein Grundprinzip der Kirche. Es ist wie der Prophet Joseph Smith schon sagte, „Wir glauben alles, was Gott offenbart hat, und alles, was er jetzt offenbart; und wir glauben, daß er noch viel Großes und Wichtiges offenbaren wird, was das Reich Gottes betrifft“ (GA, 9). Obwohl man allem „was Gott offenbart“ vertraut, – kanonisiert oder nicht – glauben Heilige der Letzten Tage auch noch daran, dass fortwährende Offenbarung ihre Führer weiterhin erleuchtet. Darüber hinaus werden auch in der Zukunft göttliche Richtlinien erwartet, weil Gott „noch viel Großes und Wichtiges offenbaren wird.“ Diese bevorstehenden Offenbarungen werden, der breiten Definition nach, auch als heilige Schriften anerkannt werden. Einige werden sogar den heiligen Schriften oder Standardwerken zu gegebenen Zeiten zugefügt werden.
BIBLIOGRAPHIE
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KENT P. JACKSON
SCHRIFTEN: DIE WORTE LEBENDER PROPHETEN
Eine Botschaft von Gott, die an den Menschen durch die Macht des Heiligen Geistes mündlich oder schriftlich erteilt worden ist, ist für den Empfänger heilige Schrift (MD, 682; vgl. 2 Ne. 32:3). Paulus schrieb an seinen Mitarbeiter Timotheus, „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim. 3:16). Ferner, jeder Mensch kann persönliche Offenbarung zu seinem oder ihrem eigenem Nutzen erhalten. Gott hat jedoch nur seine Propheten dazu erwählt für ihn zu sprechen, woraus sich die heiligen Schriften ergeben haben. Als Aaron dazu berufen wurde ein Sprecher für Mose zu sein, erklärte der Herr, „Ich werde euch anweisen, was ihr tun sollt, und er [Aaron] wird für dich zum Volk reden. Er wird für dich der Mund sein, und du wirst für ihn Gott sein“ (Ex. 4:15-16).
Mitglieder der Kirche Jesu Christi glauben an forwährende Offenbarung. Das trifft besonders auf Propheten zu, die die Kirche leiten. Dieser Grundsatz wurde durch eine an den Propheten Joseph Smith im November 1831 erteilten Offenbarung klargestellt: „Und was auch immer sie, bewegt vom Heiligen Geist, reden werden, wird heilige Schrift sein, wird der Wille des Herrn sein, wird der Sinn des Herrn sein, wird das Wort des Herrn sein, wird die Stimme des Herrn sein und die Macht Gottes zur Errettung“ (LuB 68:4). Inspirierte Aussagen der Propheten und Präsidenten der Kirche wurden vormals und mögen auch zukünftig den Standardwerken der Kirche via dem Gesetz der allgemeinen Zustimmung zugfügt werden.
Heilige der Letzten Tage bestätigen die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel als Propheten, Seer und Offenbarer. Und seit der Prophet und Präsident der Kirche als der Prophet, Seer und Offenbarer bestätigt wird, ist er offiziell derjenige, der im Namen des Herrn für die Kirche spricht (LuB 21:4-5; 28:2). Die anderen Propheten, Seer und Offenbarer, nämlich die beiden Ratgeber und das Kolleguim der Zwölf Apostel , haben das Recht, die Macht, und die Autorität den Sinn und Willen Gottes an seine Kinder – der präsidierenden Macht des Propheten unterliegend – zu offenbaren (LuB 132:7).
Ganz gleich ob sie offiziell als Teil des geschriebenen Kanons akzeptiert worden sind oder nicht, die inspirierten Aussagen des Präsidenten sind für die Mitglieder der Kirche bindend. Die inspirierten Worte lebender Propheten sind für Kirchenmitglieder am wichtigsten und übersteigen nicht nur den geschriebenen Kanon sondern auch vormalige prophetische Äußerungen (LuB 5:10). Errettung und Erhöhung von Mitgliedern hängt von ihrem Gehorsam zu der göttlichen Inspiration ab, die als eine Stimme der Warnung durch lebende Propheten an die Welt erteilt wird (LuB 1:4-5).
Dieser Grundsatz erscheint auch im Alten Testament. Zum Beispiel, die Menschen z. Z. Noachs hätten der Sintflut entrinnen können, wenn sie Noachs göttlicher Weisung Folge geleistet hätten. Gleichermaßen wurde es von den Israeliten erwartet die Worte Mose so zu akzeptieren und ihnen so pflichtbewusst zu gehorchen, als ob der Herr sie selber verkündet hätte (Deut. 18:18-22). Der Herr lehrte auch, „Wenn es bei euch einen Propheten gibt, so gebe ich mich ihm in Visionen zu erkennen und rede mit ihm im Traum“ (Num. 12:6).
Dass die frühen Christen großen Wert auf die „lebendige Stimme“ legten, ist aus den Schreiben des Papias (ugf. 130 v.Chr.) ersichtlich: „Sollte mir jemand begegnen, der tatsächlich ein Nachfolger der Ältesten ist, dann würde ich ihn zuerst über die Diskurse der Ältesten ausfragen; was Andreas und Petrus gesagt haben, oder was Philip oder Thomas oder Jabobus, oder Johannes oder Matthäus, oder irgendeiner des Herrn Apostel gesagt hat. Denn ich bin mir bewusst, dass das, was in den Büchern geschrieben steht mir weniger behilflich sein wird, wie die Äußerung der lebendigen und beständigen Stimme“ (Eusebius, Ecclesiastical History, 3.39.4).
Heilige der Letzten Tage akzeptieren den Grundsatz, dass das was Gott verkündet, „ sei es durch meine eigene Stimme oder durch die Stimme meiner Knechte,” dasselbe ist (LuB 1:38). Andererseits, Propheten haben das Recht ihre persönliche Meinung zu äußern, denn nicht jedes Wort eines Propheten wird von Mitgliedern der Kirche als offizielle Erklärung oder Interpretation der Schriften aufgefasst. Nur wenn sie vom Heiligen Geist inspiriert ist, entspricht ihre Aussage der einer heiligen Schrift. Um das feststellen zu können muss die Macht des Heiligen Geistes den Menschen bezeugen, dass die Botschaft von Gott inspiriert war. Der Heilige Geist ist uns allen gegeben die Wahrheit aller Dinge erkennen zu können (Moro. 10:5).
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Benson, Ezra Taft. "Fourteen Fundamentals in Following the Prophet." BYU Speeches of the Year, 1977 -80, pp. 26-30. Feb. 26, 1980.
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Horton, George A., Jr. Keys to Successful Scripture Study, pp. 2-11. Salt Lake City, 1989.
A. GARY ANDERSON
SCHRIFTEN: ZUKÜNFTIGE SCHRIFTEN
Heilige der Letzten Tage glauben, dass Gott „noch viel Großes und Wichtiges offenbaren” wird (GA, 9), dass der Himmel nicht verschlossen ist und dass Gott weiterhin „vom Himmel herab Erkenntnis auf das Haupt der Heiligen der Letzten Tage [ausgießen]“ wird (LuB 121:33) Weiterhin erwartet man, dass zukünftige Offenbarungen voralters gegebene Wahrheiten wiederherstellen- und dass neue Kundgebungen sich enthüllen werden.
Die heiligen Schriften legen besonderen Akzent auf die Wiederherstellung vieler heiliger Bücher, die darauf bestehen, dass manche „klare und kostbare Dinge“ durch die Welt entfernt worden waren (1 Ne. 13:39-40). Unter anderem werden sie das Buch Enoch enthalten (LuB 107:57); einen weiteren Bericht der Ereignisse auf dem Berg der Verklärung (LuB 63:20-21); einen vollständigen Bericht des Johannes und Visionen vom Ende der Welt (1 Ne. 14:18-27; Ether 4:16; LuB 93:6, 18); der versiegelte Teil des Buches Mormon, der auch die Vision des Bruder von Jared beinhaltet (2 Ne 27:7-11; Ether 3:25-27; 4:7); die Tafeln aus Messing (Alma 37:4-5; Siehe auch Die Tafeln und Berichte des Buches Mormon); einen vollständigen Bericht der Lehren Christi an die Nephiten (3 Ne 26:6-11); und Aufzeichnungen über die zerstreuten Stämme Israels (2 Ne. 29:12-13).
Wie oder wann diese Schriften zum Vorschein kommen werden, ist nicht bekannt. Generell gesehen werden weitere Offenbarungen nur nach der Umkehr des Menschen, seiner Glaubensbereitschaft sie empfangen zu wollen, und dem Zeitplan Gottes vonstatten gehen (2 Ne. 28:30; Ether 4:1-12).
Heilige der Letzten Tage sind der Auffassung, dass die Welt nur den Anfang der großen Wiederherstellung jener heiligen Schriften und Grundsätze erfahren hat, wodurch Gott „alles in Christus vereinen [wird],“ (Eph. 1:10). Himmlische und irdische Berichte werden gesammelt und miteinander vereint- und nichts wird „vorenthalten“ werden (1 Ne. 13:41; LuB 121:28).
ROBERT A. CLOWARD
BIBLIOGRAPHIE
Maxwell, Neal A. "God Will Yet Reveal." Ensign 16 (Nov. 1986):52-59.
McConkie, Bruce R. "The Doctrinal Restoration." In The Joseph Smith Translation, ed. M. Nyman and R. Millet, pp. 1-22. Provo, Utah, 1985.