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GNADE

In der christlichen Theologie dreht sich eines der meistumstrittenen Themen um die Frage, ob man Erlösung durch die Gnade Gottes oder durch gute Werke empfängt. Paulus` Aussage, dass „der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes“ (Röm. 3:27) wird häufig zitiert, um die erstere Anschauung zu unterstützen. Dagegen wird Jakobus`Aussage, dass „der Glaube ohne Werke nutzlos ist“ (Jakobus. 2:20) oftmals zugunsten der letzteren  Anschauung angeführt. Die HLT Lehre, dass Erlösung sowohl Gnade als auch Werke erfordert, ist eine (offenbarte) Verbindung dieser beiden widersprüchlichen Positionen.

C. S. Lewis schreibt, dass dieser Konflikt „ für ihn so scheint, als ob man fragen würde, welche Seite einer Schere wichtiger ist als die andere“ (S. 129). Alle christlichen Glaubensgemeinschaften akzeptieren letztlich auf die eine oder andere Weise die Notwendigkeit von Gnade und Werken. Dennoch bestehen beträchtliche Unterschiede in Gewichtung und Bedeutung innerhalb der verschiedenen traditionellen Sichtweisen.

Die Wechselbeziehung von Gnade und Werken, dessen Konzept in der HLT Lehre einzigartig ist, reflektiert auch die Einzigartigkeit des wiederhergestellten Evangeliums in über  die Natur des Menschen, den Fall Adams, das Sühnopfer und den Vorgang der Erlösung. Gleichzeitig enthält die HLT Lehre aber auch Merkmale, die den grundlegenden Prinzipien anderer Traditionen ähnlich sind. Die Heiligen der Letzten Tage bestehen zum Beispiel darauf, dass Verordnungen durch die richtige Priestertumsvollmacht vollzogen werden. Dies gleicht der katholischen Lehre, dass die Sakramente eine notwendige Vorraussetzung sind, um Gnade zu empfangen. Außerdem spiegelt die Bedeutung, die die Heiligen der Letzten Tage auf persönlichen Glauben und Umkehr, und eine direkte Beziehung zu Gott legen, traditionelle protestantische Lehren wider. Die Position der Heiligen der Letzten Tage „ist kein bequemer Eklektizismus, sondern die Wiedergewinnung (durch die Wiederherstellung) eines neutestamentlichen Verständnisses, das Paulus` und Jakobus` Lehre in Einklang bringt“ (Madsen, S. 175). 

Durch den Nachdruck, den die Kirche auf persönliche Verantwortung und Gehorsam legt, scheint es so, dass die Gnade Christi an Bedeutung verliert. Für die Heiligen der letzten Tage stellt Gehorsam jedoch nur eine Seite der Schere dar. Die gesamte HLT Theologie betont, dass Erlösung ohne Gnade nicht möglich ist. Dies stellt eines der bedeutendsten Themen im Buch Mormon dar. „Denn wir wissen, daß wir durch Gnade errettet werden, nach allem, was wir tun können“ (2. Ne. 25:23). Das Sühnopfer Jesu Christi ist die Quelle dieser Gnade. „Und die Barmherzigkeit wird wegen des Sühnopfers zuteil“ (Alma 42: 23).

Seit dem Mittelalter wurzeln die Lehren der christlichen Theologie in dem Glauben, dass die Menschen eine angeborene schlechte Natur haben, die auf den Fall Adams und die Ursünde zurückzuführen ist. In der katholischen sowie der protestantischen Lehre kann einzig die Gnade diese schlechte Natur überwinden. Verschiedene christliche Schriftsteller haben sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Gnade Christi die dunkle Natur des Menschen vollständig überkommen kann. Im fünften Jahrhundert sah Augustinus die Gnade als einziges Mittel den irdischen Vergnügungen und dem Einfluss der weltlichen „Stadt des Menschen“ zu entfliehen. Er kämpfte selbst mit seinem Glauben, dass er eine angeborene schlechte Natur habe. Im 13. Jahrhundert war Thomas von Aquin zuversichtlicher. Er erkannte die gravierenden Auswirkungen, die die Erbsünde zur Folge hatte, verteidigte aber gleichzeitig das natürliche Potenzial des Menschen zum Guten.

Im frühen 16. Jahrhundert folgerte Martin Luther durch sein Studium der Pauluslehren und seine Reaktion auf den Verkauf von Ablassbriefen, dass der Glaube die wahre Quelle von Gnade ist. Der Glaube ist Gottes Gabe an auserwählte Einzelpersonen und stellt das Mittel der Rechtfertigung vor Gott dar. Luther brach damit (vielleicht unabsichtlich) die Kontrolle der mittelalterlichen Kirche über die Gnade und entfesselte damit die politische Gewalt der protestantischen Reformation. Luther war der Überzeugung, dass sich die Menschen Gnade nicht durch individuelle Bemühungen „verdienen“ können. Selbst die guten Werke eines gottgehorsamen Menschen sind nur die sichtbaren Auswirkungen von Gnade. Diese Vorstellung beeinflusste später die Entwicklung der puritanischen Ethik in Amerika. Johannis Calvin, ein Zeitgenosse Luthers, entwickelte eine vollständige Lehre der Vorbestimmung. Diese basierte auf Luthers Gedankengut, welches besagt, dass Gott diejenigen auserwählt, denen er die Gaben des Glaubens und der Gnade gewährt.

Die Katholische Kirche reagierte auf Luthers Anfechtungen, indem sie die Vorherbestimmungstheorie ablehnte. Sie bestätigte nochmals, dass Gnade durch die Kirchensakramente vermittelt wird und dass Gnade die Entscheidungsfreiheit des Menschen nicht völlig ersetzen kann. Gleichzeitig betonte sie die Bedeutung, die Gottes Initiative einnimmt. Noch bevor sich die Menschen Gott zuwenden, wirkt dessen Gnade auf deren Willen ein. Nachdem sie von Gnade erfüllt wurden, sind sie aber immer noch in der Lage ihre Entscheidungsfreiheit zu nutzen. Die Wechselbeziehung zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit ist nicht ganz verständlich. Dennoch wird Gnade durch Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes vermehrt und macht aus guten Werken solche Werke, die einen großen Wert im Prozess der geistlichen Regeneration haben.

Früher haben protestantische Theologen die ausschließliche Betonung unverdienter Gnade Gnade in Frage gestellt, da diese die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen verleugnet. Dietrich Bonhöffer verurteilte die Idee der „billigen Gnade“, welche fälschlicherweise nahelegt, dass „man alles haben kann ohne etwas dafür zu tun, da die Forderung schon im Voraus bezahlt wurde“( The Cost of Discipleship, 1963, S. 45). John MacArthur gab zu bedenken, dass der gegenwärtige Evangelismus Sündern verspricht, dass sie „ewiges Leben haben und trotzdem in Rebellion gegenüber Gott leben können“ (The Gospel according to Jesus, 1988, S. 15–16). Paul Holmer schrieb, dass es unangebracht ist, die Gefahren von Werken zu betonen, „wenn die Zuhörer noch nicht einmal den Versuch machen! Die meisten Kirchgänger befinden sich nicht in  Gefahr sich ihren Weg in den Himmel mit Werken zu erarbeiten“ (“Law and Gospel Re-examined,” Theology Today 10 [1953–54]: 474).

Einige Kirchenmitglieder haben ähnliche Bedenken bezüglich der Gnade-Werke Kontroverse und einer damit verbundenen einseitigen Sichtweise geäußert. Sie teilten auch die Bedenken der Katholischen Kirche bezüglich einer Lehre der Gnade, die den freien Willen des Menschen untergräbt. Die Heiligen der Letzten Tage wissen, dass sich Paulus mit seiner Lehre über die Unzulänglichkeit von Taten und „den Werken des Gesetzes“ ( Röm. 3:27-28)  hauptsächlich auf die Unzulänglichkeit der rituellen Werke des Gesetzes des Mose bezieht. Dieses wurde durch die höheren Anforderungen des Evangeliums Jesu Christi abgelöst. Folglich betrachtete Paulus viele „der äußerlichen Förmlichkeiten und Zeremonien“ des Mosaischen Gesetzes  richtigerweise als „unnötige Werke“  (AF, S.480). Der Prophet Abinadi erklärt im Buch Mormon (c. 150 v.Chr.): „Und ferner sage ich euch, daß die Errettung nicht durch das Gesetz allein kommt; und wenn nicht das Sühnopfer wäre, das Gott selbst für die Sünden und Übeltaten seines Volkes zustande bringen wird, so würde es unweigerlich zugrunde gehen, trotz des Gesetzes des Mose“ (Mosia 13:28).

Für die Heiligen der Letzten Tage ist Gnade von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig betonen sie aber auch die Wichtigkeit der eigenen Selbstständigkeit, was auf eine einzigartige Lehre über die Natur und das Schicksal des Menschen zurückzuführen ist. Der Reformationsgelehrte John Dillenberger bemerkte : „ Der Mormonismus hat die menschlichen Möglichkeiten hervorgehoben und dadurch Standpunkte in Einklang gebracht. Er wendet sich nicht von der Zentralität der Gnade ab, sondern hebt hervor, dass die wirklichen Kräfte der Menschen den tatsächlichen Zustand der Menschen reflektieren.  Der Mormonismus hat ein schwieriges  Problem innerhalb des Evangelismus verständlicher gemacht, nämlich wie man die neue Kraft der Menschheit mit der negativen vererbten Anschauung der Menscheit in Einklang bringen kann, ohne die Notwendigkeit von Gnade zu vernachlässigen“.  Zum Schluss folgert Dillenberger: „Vielleicht ist der Mormonismus die authentische amerikanische Theologie für die Eigenständigkeit (revivalist), fundamentalistischer Gruppen, die in merklichem Kontrast zu ihrer ererbten Vorstellung von dem Elend der Menschheit stehen“ (S. 179).

Der Fall Adams macht, in der HLT Lehre, das Sühnopfer Christi erforderlich. Das bedeutet aber nicht, dass der Fall selbst den Menschen schlecht machte. Adam und Eva wurden duch ihre Übertretung aus dem Garten von Eden in eine Welt vertrieben, die den Bedingungen des Todes und schlechten Einflüssen unterlag. Dennoch offenbarte der Herr Adam bei dessen Eintritt in die Sterblichkeit, dass „der Sohn Gottes die ursprüngliche Schuld gesühnt habe“; deshalb waren Adams Kinder nicht schlecht, sondern „von der Grundlegung der Welt an heil“ (Mose 6:54). Folglich war „der Geist jedes Menschen im Anfang unschuldig; und nachdem Gott den Menschen vom Fall erlöst hatte, wurden die Menschen in ihrem Kindeszustand wiederum unschuldig vor Gott“ (LuB 93: 38).

Als Nachkommen Adams und Evas werden alle Menschen im Alter von acht Jahren für ihre eigenen Sünden verantwortlich. Durch ihren eigenen freien Willen erfahren sie, was es heißt Sünden zu begehen. „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren“ (Röm. 3:23). Wenn alle Erfahrungen eines Menschen dazu führen, dass dieser „den Satan mehr liebt als Gott“ (Mose 5:28), dann wird dieser naturgemäß letztendlich „fleischlich, sinnlich und teuflisch“ (Mose 5:13; 6:49). Ein Mensch, der die Gnade Christi, die ihm durch das Sühnopfer zuteil wird, willentlich durch Glauben, Umkehr und Taufe akzeptiert, „gibt den Einflüsterungen des Heiligen Geistes nach und legt den natürlichen Menschen ab und wird durch das Sühnopfer Christi ein Heiliger“ (Mosia 3:19). Auf diesem Weg akzeptiert jeder individuell die Gnade, die ihm durch das Sühnopfer zuteil wird und übt Glauben durch „den Wunsch zu glauben“ aus (Alma 32:27). Oftmals wird dieser Wunsch durch andere Menschen, die Zeugnis von Jesus Christus ablegen, entfacht. Wenn diese Worte über Christus im Herzen eines Menschen Raum finden und durch Gehorsam und Gnade genährt werden, kann dieser „ein Heiliger werden“. Dadurch kann dieser Mensch ewiges Leben und ewige Freude empfangen.

Gnade ist somit der Ursprung von dreierlei Segnungen, die mit der Errettung der Menschheit in Verbindung stehen. Erstens sind viele Segnungen bedingungslos, d.h. dass sie freie und unverdiente Gaben sind, die kein menschliches Handeln erfordern. In dieser Hinsicht nimmt die Gnade Gottes Einfluss auf die Schöpfung, den Fall, das Sühnopfer und den Plan der Erlösung. Besonders im Hinblick auf den Fall hat die Gnade Christi für die Ursünde und alle anderen Bedingungen, die aus dem Fall resultieren, gesühnt und die Auferstehung der gesamten Menschheit zustande gebracht. „Wir glauben, dass der Mensch für seine eigenen Sünden bestraft werden wird und nicht für die Übertretung Adams“ (2. Glaubensartikel ).

Zweitens hat Christus für persönliche Sünden unter Vorbehalt gesühnt. Gnade kann bei persönlichen Sünden nur zur Wirkung kommen, wenn der Einzelne umkehrt. Dies kann einen schwierigen Prozess und anspruchsvolle Anstrengungen bedeuten. Durch diese Bedingung kann die Gnade die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllen, ohne dass sich diese gegenseitig berauben. Persönliche Umkehr stellt damit eine notwendige Bedingung zur Errettung dar, reicht aber alleine nicht aus, um diese zu gewährleisten. Zusätzlich muss man die Verordnungen der Taufe und der Spendung der Gabe des Heiligen Geistes akzeptieren. Durch diese wird man von neuem als Geistkind Christi geboren und kann letztendlich geheiligt werden (LuB 76: 51-52; Siehe auch Das Evangelium Jesu Christi).

 Nachdem man das Evangelium des Glaubens, die Umkehr und die Taufe zur Sündenvergebung empfangen hat und sich „ganz auf die Verdienste dessen verlassen hat, der mächtig ist zu erretten“, ist man einzig „durch das Tor auf den engen und schmalen Pfad eingetreten, der zum ewigen Leben führt“ (2. Ne. 31: 17-20). In diesem Stadium der geistigen Entwicklung muss man sich weiter bemühen und dem Glauben Werke beifügen, um bis „ans Ende auszuharren“ (2. Ne. 31:20). Diese Bemühungen beinhalten Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes und den höheren Verordnungen, wie sie im Tempel vollzogen werden. Außerdem muss man ständig Umkehr üben, um  „Vergebung für seine Sünden zu bewahren“ (Mosia 4:12).

Den Lehren Luthers zufolge sind solche Werke der Rechtschaffenheit keineswegs das Ergebnis persönlicher Anstrengungen, sondern die spontanen Auswirkungen der Gnade, die man von Gott empfangen hat. Im Unterschied dazu steht die HLT Lehre, die besagt, dass „die Menschen vieles aus ihrem eigenen, freien Willen tun und viel Rechtschaffenheit zustande bringen sollen; denn die Macht ist in ihnen, wodurch sie für sich selbst handeln können“ (LuB 58: 27-28). Gleichzeitig ist es den Menschen aber unmöglich durch ihre eigenen Anstrengungen wie Christus zu werden. Vervollkommnende Eigenschaften wie Hoffnung und Nächstenliebe werden letztlich durch die Gnade des Sühnopfers „denen zuteil, die wahre Nachfolger Jesu Christi sind“ (Moro. 7:48). Die Bedeutung, die unter den Heiligen der Letzten Tage auf den freien Willen gelegt wird, bringt die interaktive Beziehung zwischen den Menschen und Gott zustande. Der Optimismus der bekehrten Mitglieder, gegenüber „der Frucht des Geistes“, trägt außerdem zu dieser Beziehung bei. Diese Mitglieder sind diejenigen, „die mich lieben und alle meine Gebote halten, und [diejenigen, die dies] zu tun trachten“ (LuB 46:9).

Gott verleiht diese zusätzlichen, vervollkommnenden Eigenschaften nur bedingt, genauso wie er die Gnade zur Sündenvergebung nur bedingt gewährt. Sie werden einem „nach allem, was wir tun können“, also zusätzlich zu unseren stärksten Bemühungen, gegeben (2. Ne 25:23). Im Allgemeinen steht diese Bedingung nicht so sehr im Zusammenhang mit dem Gehorsam gegenüber einzelner Gebote. Die grundlegenden Charaktereigenschaften wie „Sanftmut und Herzensdemut“ (Moro. 8:26) und der Besitz „ eines reuigen Herzens und eines zerknirschten Geistes“ (Ps.51:17; 3 Ne. 9:20; Hafen, Kap. 9) sind hier ausschlaggebend. Moroni schrieb dazu am Ende des Buches Mormon: „Und wenn ihr auf alles verzichtet, was ungöttlich ist und Gott mit all eurer Macht, ganzem Sinn und aller Kraft liebt, dann ist seine Gnade ausreichend für euch, damit ihr durch seine Gnade in Christus vollkommen seiet; ...dann werdet ihr durch die Gnade Gottes in Christus geheiligt, nämlich dadurch, daß das Blut Christi vergossen wurde“ (Moro. 10: 32-33).

BIBLIOGRAPHIE

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BRUCE C. HAFEN