Mormonenfolklore umfasst jenen Teil des kulturellen Erbes der Kirche, den Heilige der Letzten Tage von Person zu Person und von Generation zu Generation weitergeben, nicht durch geschriebene Texte oder formale Unterweisung, sondern durch das gesprochene Wort oder Beispiel. Das heißt, jemand hört daheim oder in einer Kirchenversammlung Geschichten über die Leiden der Mormonensiedler und erzählt dann diese Berichte wiederum anderen weiter. Oder ein junges Mädchen sieht ihrer Großmutter zu und hilft ihr dann, „Tempelquilts“ (Quilts, auf denen der Umriss des Mormonentempels, in dem ein Paar geheiratet hat, gestickt ist) zur Hochzeit jedes Enkels zu machen, und dadurch lernt sie schließlich ihre eigenen Quilts zu machen. Oder jeden Abend sammeln Eltern ihre Kinder zum Familiengebet und dann werden diese eines Tages diese Sitte in ihren eigenen Familien fortsetzen.
Die Materialien der Mormonenfolklore unterteilen sich grob genommen in drei weite Kategorien. Als erstes zu nennen sind Dinge, die aus Worten geschaffen werden (von Liedern und Geschichten über Großeltern, die damit kämpften, ein Neues Zion im rauen Great Basin Königreich aufzubauen, über zeitgenössische Berichte, wie Gottes gnädige Hand „die Angelegenheiten der Heiligen“ wahrnimmt und Missionsbemühungen in einer sich immer weiter ausbreitenden Kirche leitet, bis zu lustigen Geschichten, die Mormonenschwächen karikieren und den Druck erleichtern, „in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein“). Zweitens kommen handgefertigte Gegenstände (von traditionellen Geräten, wie zum Beispiel dem Mormonen-Heukran, über in Hausarbeit gefertigte „stille Bücher“, die kleine Kinder während der Kirchenversammlungen beschäftigt halten sollen, Selbsteingemachtes und besondere Festtagsspeisen, bis zu einem dekorativen Familienbuch der Erinnerungen [Siehe Materielle Kultur]). Drittens kommen Dinge, die aus dem Verhalten der Menschen entstehen (von „kreativen Verabredungen“ der Jugendlichen über besondere Familienfeiern bei Geburtstagen und Taufen bis zu Familienforschungstreffen und Kirchen- und Kommunalfesten an traditionellen Feiertagen vom Erntedankfest bis zum Pioniertag).
Diese Liste von Beispielen konzentriert sich sehr bewusst auf das Wort „machen“, weil die Kategorien der Mormonenfolklore dynamisch und nicht statisch sind. Jede Geschichte einer wundersamen Heilung, jedes Steppen eines bekannten Quiltmusters, jede Durchführung eines Familiengeburtstagsspieles ist jedes Mal ein neuer Schöpfungsakt, der sowohl von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart spricht. Sie sprechen von der Vergangenheit, weil die Formen traditionell sind, wiederkehren und über Jahrzehnte hin durch die HLT-Gemeinschaft entwickelt wurden. Sie sprechen von der Gegenwart, weil sich die Formen ständig ändern, um sich den Bedürfnissen der Heiligen der Letzten Tage der jeweiligen Ära anzupassen und zeitgenössische Werte und Bedenken widerzuspiegeln.
Wegen dieses beständigen Neuschaffens und Neugestaltens älterer Formen steht Mormonenfolklore nicht am Rand, sondern im Zentrum der HLT-Kultur. Es ist nicht, wie manchmal angenommen wird, einfach nur ein Überleben aus der Vergangenheit, das vor allem von älteren, weniger gebildeten und auf dem Lande lebenden Kirchenmitgliedern aufrecht erhalten wird. Es ist vielmehr eine unerlässliche, wirkende Macht im Leben aller Heiligen der Letzten Tage. Außerdem ersetzen manchmal neue Folklorearten, die heutige Bedürfnisse direkter ansprechen, die alten, während die Kirche weiterhin wächst und sich verändert. Denn genau wie Heilige der Letzten Tage in der Siedlungsära in Reaktion zu ihren Lebensumständen Folklore geschaffen und überliefert haben, so werden auch heutige Heilige der Letzten Tage Folklore schaffen und weitergeben, während sie auf den Druck und Stress, die Freuden und Sorgen ihres Lebens reagieren. Zum Beispiel werden Bekehrte der Kirche, die außerhalb Utahs, entfernt vom Kirchenzentrum in den Rocky Mountains leben, vielleicht wenig beeindruckt von den Geschichten über das Leiden der Pioniere und wissen vielleicht wenig von den frühen Geschichten in Bezug auf die glückliche Rettung der Ernte der Siedler vor Schwärmen von Heuschrecken oder die Legenden der drei Nephiten. Aber sie werden Geschichten über ihre eigene wunderbare Bekehrung wissen und erzählen und über den Spott und das Leid, das sie mit der Hilfe Gottes ertragen, während sie als die einzigen Heiligen der Letzten Tage in manchmal unfreundlichen und oft feindseligen Kommunen ums Überleben ringen.
Um die Heiligen der Letzten Tage richtig zu verstehen, muss man ihr Volkstum kennen - muss sehen, wie es ihren Glauben aufbaut, einen Gemeinschaftssinn schafft, sie mit ihrer Vergangenheit verbindet und ihnen durch Humor eine Ausflucht vor dem Druck verschafft, der sie sonst zugrunde richten könnte. Man muss besonders Mormonenfolklore verstehen, um den Mormonenethos zu verstehen, und zwar weil Menschen Geschichten von den Ereignissen erzählen, die sie am meisten interessieren, oder an Gebräuchen teilnehmen, die ihnen am wichtigsten sind. Da diese Geschichten und Praktiken für ihr Fortbestehen vom gesprochenen Wort und von freiwilliger Teilnahme abhängig sind, verschwinden einfach jene Erzählungen, die im weiten Sinne nicht dem Kern der HLT-Wertvorstellungen oder einer allgemein angenommenen Sammlung von HLT-Einstellungen und Glaubensansichten entsprechen. Die Geschichten, die fortbestehen, dienen daher als ausgezeichnetes Barometer für die vorherrschenden kulturellen und religiösen Werte unter den Heiligen der Letzten Tage.
In einigen Städten in Utah und im Westen der USA dominiert ein Mormonentempel die Landschaft, weil er gewöhnlich auf einem Hügel oder in der Talmitte steht und so die religiösen Werte, die ursprünglich HLT-Siedler in die Region brachten, für alle Durchreisenden symbolisiert. In Städten und Tälern um den Tempel, in Sonntagsschulklassen, bei Familienversammlungen und unter Freunden erzählen die Nachfahren und Bekehrte dieser Siedler Geschichten über den für jetzt genossene Segnungen gezahlten Preis. Die Geschichten geben Zeugnis von der gnädigen Hand Gottes im Leben der Glaubenstreuen, sie bauen betrübte Seelen auf, ermutigen, unterstreichen Gehorsam und spenden Hoffnung auf den letztendlichen Sieg Zions. Die Geschichten gestatten einen Einblick in diese reiche und stetig wachsende Geschichtensammlung, die Überlieferungsgeschichte des Glaubens.
Die Frage verbleibt, ob Geschichten mit diesen Werten darin wirklich „wahr“ sind—und was, damit einhergehend, ihr letztendlicher Wert ist, wenn sie nicht wahr sind. Obwohl die Geschichten häufig auf tatsächlichen Geschehnissen basieren, ändern sich ihre Details deutlich, wenn sie mündlich überliefert werden. Diese Veränderungen geschehen jedoch nicht willkürlich. Sie werden von Kulturelementen bestimmt. Während Geschichten von einer Person an die nächste weitergegeben werden, werden sie oft verändert, und zwar gewöhnlich unbewusst, um die Ansichten der Erzähler auszudrücken und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Da volkstümliche Geschichten diese Glaubensvorstellungen widerspiegeln und bekräftigen und weil die Glaubensvorstellungen selber historische Tatsachen sind und Menschen einfacher zur Tat bewegen als die Realitäten, auf denen sie basieren, können sie wertvolle historische Daten liefern. Aber es lohnt sich mehr sie aus anderen Gründen anzuschauen, sie nicht als Geschichte, sondern als Literatur zu betrachten und in ihnen nicht die nüchternen Wahrheiten tatsächlicher Geschehnisse zu entdecken, sondern den Ausdruck dessen, was den Menschen am Herzen und im Sinn lag. Mehr oder minder entsprechen dann volkstümliche Erzählungen der Mormonen entweder den Tatsachen oder auch nicht. Aber als Schlüssel zum Verständnis der Heiligen der Letzten Tage und ihrer Kirche, sind sie immer wahr.
BIBLIOGRAPHIE
Studien über Mormonenfolklore finden sich in Austin Fife und Alta Fife, Saints of Sage and Saddle: Folklore Among the Mormons (Bloomington, Ind., 1956); and William A. Wilson, „The Study of Mormon Folklore: An Uncertain Mirror for Truth," Dialogue 22 (Winter 1989):95-110.
Bibliographische Querverweisen finden sich in Jill Terry, „Exploring Belief and Custom: The Study of Mormon Folklore“, Utah Folklife Newsletter 23 (Winter 1989):1-4; und William A. Wilson, „ Bibliography of Studies in Mormon Folklore“, Utah Historical Quarterly 44 (1976):389-94.
WILLIAM A. WILSON