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EUROPA, DIE KIRCHE IN EUROPA

Die protestantischen Länder Westeuropas (Skandinavien, die Schweiz, Deutschland und Holland) haben zum Wachstum und Erfolg der Kirche beginnend in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert wesentlich beigetragen. Bis ungefähr 1960 stammten die meisten Neubekehrten der Kirche aus den USA, Kanada, Großbritannien und Europa; in den späteren Jahren erwiesen sich die lateinamerikanischen Länder und Asien als fruchtbarerer Boden für die Missionsarbeit. Ohne die in Scharen nach Utah und seine Pioniersiedlungen strömenden europäischen Bekehrten wäre das Wachstum der Kirche langsamer verlaufen und die Kirche selbst viel abgekapselter und provinzieller geworden.

Der Erfolg in der Missionsarbeit in Europa war geographisch gesehen ungleichmäßig verteilt. Die ersten Bekehrten kamen hauptsächlich aus den Ländern der protestantischen Reformation. Schon um 1850 herum bemühten sich Missionare in Frankreich, Italien, Irland und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie um Bekehrte. Der Erfolg erwies sich jedoch als mager, und die Missionare verloren den Mut. Wirklicher Erfolg in den oben erwähnten sowie in anderen katholischen Ländern Europas trat erst in der offeneren Gesellschaft des 20. Jahrhunderts ein. In den christlich-orthodoxen Ländern Osteuropas (Rußland, Griechenland und die Balkanländer) blieben die Missionare ebenfalls erfolglos. Auch unter den europäischen Juden gab es nur wenige Bekehrte.

Die neubekehrten Mitglieder der Kirche kamen aus vielen verschiedenen Kirchen und Sekten, die meisten waren jedoch “Suchende” verschiedenster Art, die sich teilweise bereits in eigenen Gemeinschaften zusammengefunden hatten, so zum Beispiel Timothy Mets <Mets, Timothy und die “Neuen Lichter”> und seine “Neuen Lichter” im Holland der frühen sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Die meisten dieser “Suchenden” hatten sich bereits eingehend mit der Bibel befaßt und befanden sich auf der Suche nach einer Kirche mit Aposteln, Propheten und geistigen Gaben, so wie sie sie im Neuen Testament gefunden hatten. Sie hatten an den überlieferten Lehren der herkömmlichen Kirchen sowie am Verhalten der Geistlichen verschiedener Kirchen Mißfallen gefunden und strebten als Vorbereitung auf die bevorstehende Wiederkunft Christi Gewißheit durch die Gemeinschaft mit dem Geist Gottes an.

Die meisten europäischen Bekehrten entstammten der Mittelschicht, der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse. Eine Studie, die sich mit HLT-Einwanderern in den USA in den Jahren 1840 bis 1869 befaßte, ergab, daß nur 11 Prozent der Einwanderer aus der Mittelschicht stammten oder ausgebildete Handwerker waren - der Rest stammte aus der Arbeiterklasse. Schon früh bemühten sich Missionare, die Regierenden der verschiedenen Länder für die Kirche zu interessieren, aber ihre Worte fielen auf taube Ohren und führten teilweise sogar zum Landesverweis der Missionare. Auch der alte europäische Adel, der Geldadel und die immer einflußreicher werdende Intelligenz wollte von der Kirche nichts hören. Auf solche Art und Weise der “feinen” Gesellschaft verwiesen, gingen die Missionare zu den Armen, unter denen sie Gläubige fanden. Erst im späten zwanzigsten Jahrhundert wurden die europäischen Heiligen der Letzten Tage als Ganzes gesehen durch bessere Bildungschancen und größeren finanziellen Erfolg Teil des wachsenden Mittelstandes.

Die neuen europäischen Heiligen der Letzten Tage des neunzehnten Jahrhunderts entstammten der ländlichen ebenso wie der städtischen Gesellschaft. Bauern, Landarbeiter und Handwerker verließen gleich den Industriearbeitern und Städtern die verarmten Landgebiete und Elendsviertel des industriellen Europa und zogen in das Königreich Gottes der Heiligen der Letzten Tage, das von diesen und tausenden anderen Auswanderern für das verheißene Land, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, gehalten wurde.

Ungefähr drei Jahre nach Ankunft der ersten Missionare in Europa wurde die Lehre von der Sammlung bekanntgegeben, in der die Neubekehrten zur Auswanderung nach Zion aufgefordert wurden. Vor 1900 kamen 91.600 Personen diesem Aufruf nach, und obwohl die Führer der Kirche nach der Jahrhundertwende von der Einwanderung in die USA abrieten, zogen noch tausende europäische Mormonen mit dem immer größer werdenden Strom europäischer Auswanderer nach Amerika. Sie sparten an allen Ecken und Enden - und das manchmal jahrelang - um sich die achtzig bis einhundert Dollar für die Reise von Liverpool nach Salt Lake City zusammenzusparen. Die durchschnittliche Wartezeit dafür betrug zehn Jahre. Die Heiligen der Letzten Tage, die auf dem europäischen Festland lebten, reisten zuerst nach Liverpool, von wo aus sie gemeinsam mit den englischen Bekehrten eine Überfahrt auf einem der großen Auswandererschiffe wie der Amazon, Nevada oder Monarch of the Sea buchten. Ihr Zielhafen war die Stadt New Orleans, von wo aus sie flußaufwärts nach Nauvoo reisten. Später fuhren die Schiffe bis nach New York, Philadelphia oder Boston, von wo aus die Einwanderer per Eisenbahn nach Omaha weiterfuhren und dann die verbleibenden 1700 Kilometer mit Handkarren nach Utah zurücklegten. Für viele war die Reise nicht einmal besonders unbeschwerlich, für andere hingegen erwies sie sich als schwere Prüfung, die nur durch Glauben und Entschlossenheit zu bestehen war.

In Anbetracht der Tatsache, daß die meisten Mitglieder der Kirche zu arm waren, um ohne Hilfe auswandern zu können, richtete die Kirche im Jahr 1849 einen AUSWANDERUNGSFONDS ein, durch den es tausenden Heiligen der Letzten Tagen ermöglicht wurde, sich das zur Auswanderung nötige Geld auszuborgen und es nach ihrer Niederlassung im amerikanischen Westen zurückzubezahlen. Nach dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn im Jahr 1869 war die Reise nach Zion nicht mehr so beschwerlich, da die Bahn die Auswanderer direkt an ihr Ziel brachte.

Die Auswanderung aus Europa fand in den fünfziger und sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt, obwohl auch nach den beiden schrecklichen Weltkriegen unseres Jahrhunderts eine beachtliche Anzahl Auswanderer, besonders aber aus Deutschland, nach Amerika strömte und Teil des “Schmelztiegels der Nationen” wurde. Nur wenige kehrten in ihre Heimatländer zurück.

Die meisten europäischen Mitglieder der Kirche waren hervorragende Pioniere. Sie brachten fast immer eine feste religiöse Überzeugung und viel Glauben mit, ebenso eine ungewöhnlich gute Arbeitsmoral, praktische Fähigkeiten und Berufserfahrung, die sie sich durch ihre hervorragende Handwerkerausbildung in Europa angeeignet hatten, und sie waren vom Wunsch beseelt, sich ihrer neuen Umgebung und deren Gesellschaft anzupassen. Zudem besaßen sie eine tiefe Achtung vor den Führern der Kirche als Gottes erwählte Diener, die Bereitschaft, sich dort niederzulassen, wohin sie berufen würden, sowie den Wunsch, die Missionsarbeit zu fördern - besonders in ihrer früheren Heimat. Eben deswegen waren sie wirksame Werber, denen es gelang, ihre Landsleute zur Niederlassung in den neuen HLT-Ansiedlungen zu überreden. Sie begrüßten die neu ankommenden Siedler am Bahnhof, um sie sodann in ihr neues “Paradies” zu begleiten.

Außer Arbeitern und gelernten Handwerkern gab es unter den Neubekehrten auch viele Geschäftsleute, Unternehmer, Lehrer sowie einige ausgebildete Hebammen und Ärzte. Aus Europa kamen auch Dichter, Journalisten, Künstler, Architekten, Photographen, Musiker und Schauspieler. Aus ihren Reihen gingen zahlreiche Generalautoritäten und Missionare hervor, die meistens in ihre frühere Heimat auf Mission gesandt wurden. Glaubenstreue Frauen und Kinder, die die Kirche oft unter großen Opfern unterstützten, übernahmen die täglichen Pflichten und Aufgaben in der Kirche. Am wichtigsten waren jedoch die Zehntausende weniger bekannten europäischen Heiligen der Letzten Tage, ohne die Zion nicht hätte existieren können. Angaben aus Volkszählungen geben über sie Aufschluß. Im Jahr 1880 waren von den 143.863 eingetragenen Einwohnern Utahs 30 Prozent, das sind beinahe 43.000 Personen, im Ausland geboren. Zählt man die Kinder dazu, die von Einwanderern der ersten Stunde abstammten, so macht dies beinahe 60 Prozent aus.

Nicht alle europäischen Neubekehrten wanderten nach Amerika aus - auch nicht in den Jahren der höchsten Beteiligung an der “Sammlung”. Viele wollten oder konnten ihre Familie nicht zurücklassen, anderen wiederum mangelte es an Geld oder Glauben. Manche fielen vom Glauben ab oder konnten keinen geeigneten Ehepartner in der Kirche finden. Einige wollten den mormonenfeindlichen Druck der Gesellschaft und die Verfolgungen nicht mehr ertragen, die beinahe immer und überall mit der Ankunft von Missionaren einhergingen. Quer durch das Europa des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wurden Heilige der Letzten Tage, insbesondere jedoch Missionare, immer wieder belästigt, mißhandelt, verleumdet, gesteinigt, eingesperrt oder des Landes verwiesen. Dieselben Missionare wurden jedoch von Generationen dankbarer und bewundernder Mitglieder der Kirche gespeist, gekleidet, mit Quartieren versorgt, beschützt und vorgewarnt. Im neunzehnten Jahrhundert wurde die Kirche von den Mächtigen der Länder ernst genommen, vielleicht sogar überschätzt. Viele Europäer hielten die Kirche für eine nichtchristliche, amerikanische Sekte. Im ganzen Europa, wo die Einheit von Kirche und Staat zur unumstößlichen Tradition geworden war, verließen sich die Herrscher in religiösen Fragen fast immer auf Informationen aus Kreisen des Klerus, der aus Angst vor einem etwaigen Machtverlust immer lauter aufschrie.

Viele prominente Europäer besuchten Utah, um sich über die ungewöhnlich und exotisch anmutende Mormonengesellschaft Eindrücke aus erster Hand zu verschaffen. Sie waren voller Bewunderung für die Leistungen der Heiligen der Letzten Tage, die die Wüste zum “Blühen wie eine Lilie” (Jes. 35:1,2) gebracht hatten; sie hielten die Menschen jedoch für fanatisch und betrachteten die Lehren der Kirche als unverständlich. Besonders die Mehrehe wurde von den Europäern, die ihre eigene Kultur rund um die Jahrhundertwende als zivilisatorischen Höhepunkt betrachteten, für etwas Unzivilisiertes gehalten. In den Augen der europäischen Intelligenz war die Mormonenkirche ganz einfach eine phänomenale amerikanische Verirrung.

Trotz alledem faßte die Kirche in Europa Fuß, fest genug, um die Kirche in Amerika zu stärken, als diese am meisten der Stärkung bedurfte, und auch, um sich für spätere Jahre ein eigenes Fundament zu schaffen. Nach dem großen Erfolg der Kirche in Großbritannien in den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, überquerten die Missionare den Ärmelkanal, um auf dem europäischen Festland Missionsarbeit zu betreiben. In der Schweiz und in Hamburg kam es zu ersten Erfolgen und zur Etablierung der Kirche. Weniger Erfolg hatten die Missionare Lorenzo Snow <Snow, Lorenzo> und John Taylor <Taylor, John> in Frankreich, aber auch dort wurden einige Bekehrte gemacht, von denen viele bedeutende Heilige der Letzten Tage abstammen. In der Schweiz und Deutschland konnte die Kirche besonders nach 1870 ein langsames, wenn auch konstantes Wachstum verzeichnen. In den sechziger Jahren wurde in den Niederlanden eine Mission gegründet, und im Laufe der Jahre wurden Tausende Mitglieder der Kirche, die nach Zion auswanderten.

In der riesigen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die mit ihren mehr als 50 Millionen Einwohnern den Großteil der ostmitteleuropäischen Landkarte einnahm, war der Erfolg weniger bemerkenswert. Im Jahr 1865 entsandte Präsident Brigham Young <Young, Brigham, entsendet Orson Pratt nach Österreich> einen Apostel, nämlich Orson PRATT, der in Österreich die Missionsarbeit einleiten sollte. Elder Pratt und sein Mitarbeiter, William Ritter <Ritter, William>, hatten wenig Erfolg und verbrachten den Großteil ihrer Zeit im Gefängnis. Ein späterer Missionar namens Thomas Biesinger <Biesinger, Thomas> machte in Wien und Prag einige Bekehrte, und ein ungarischer Bekehrter namens Misha Markow <Markow, Misha> bereiste 1903 den Großteil der Balkanstaaten und Rußland, taufte einige wenige Menschen und stieß überall auf Widerstand.

Gleichzeitig wagte man sich in der Türkei an die Grenzen zum Islam. Ein Schweizer namens Jakob Spori <Spori, Jakob> gründete dort 1884 mit geringem Erfolg eine Mission. (Siehe MITTLEREN OSTEM, DIE KIRCHE IM MITTLEREN OSTEN). Da Spori einige Russen getauft hatte, weihten Apostel Francis M. Lyman <Lyman, Francis M.> und Joseph Cannon <Cannon, Joseph> 1903 das zaristische Rußland dem Verkünden des Evangeliums.

DAS ZWANZIGSTE JAHRHUNDERT. Der europäischen Bevölkerung und natürlich auch den Mitgliedern der Kirche in Europa bescherte das 20. Jahrhundert gewaltige historische Umwälzungen: Zwei verheerende Weltkriege mit Millionen Todesopfern, dazwischen eine vernichtende Wirtschaftskrise, Faschismus und Kommunismus, den Kalten Krieg, die Amerikanisierung, Wohlstand, die Wiedergeburt Europas, und 1990 schließlich die Ausdehnung der Freiheit und Demokratie auf beinahe alle Völker des Kontinents.

Es gab auch wichtige Veränderungen im kirchlichen Leben der Heiligen der Letzten Tage. Die Auswanderung in die USA ebbte langsam ab, wodurch die Europäer zahlenmäßig zunahmen und dauerhafte HLT-Gemeinden eingerichtet wurden. Neue Länder - zuerst im Westen, später im Osten - öffneten der Missionsarbeit ihre Türen, und manche Länder, wie z.B. Frankreich, Belgien und Italien, wo früher Missionare gearbeitet und diese Länder mangels Erfolg verlassen hatten, wurden wieder mit Missionaren beschickt und zeigten nun neue Früchte. Religionsfreiheit und das Ende religiöser Verfolgungen verbreiteten sich in dem Maße, in dem die Demokratie die verschiedenen Formen der Tyrannei verdrängte. Das Ende der Mehrehe und die Anpassung der Kirche an ein breiteres Spektrum der politischen Wirklichkeit auf der Welt mitsamt der Betonung auf die geistige Mission der Kirche, öffneten der Kirche neue Türen.

Die Niederlage Deutschlands und der Mittelmächte im 1. Weltkrieg war zwar ein Bitternis für das deutsche Volk, brachte aber, insbesondere in Mitteleuropa, einen Silberstreifen am kirchlichen Horizont mit sich. Mit die Errichtung von Demokratien in Deutschland und Österreich kehrten auch die Missionare zurück. In Wien wurde eine starke Gemeinde gegründet, die der Kirche in Österreich als festes Fundament diente. Die Not der Kriege und die Kriegsniederlagen hatten zu großer Armut und Demut unter der Bevölkerung geführt, wodurch die Menschen für das Evangelium aufgeschlossener wurden. Die Missionare strömten nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland, und besonders in den ersten Jahren der Weimarer Republik gab es Taufen wie noch nie zuvor. Um 1930 gab es mehr Heilige der Letzten Tage in Deutschland als in irgendeinem anderen Land außerhalb der USA, was zu großer Hoffnung Anlaß gab.

Als Hitler an die Macht kam, führte dies zu einer drastischen Änderung im Leben der Kirche und ihrer Mitglieder, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Schon bald machte der allgegenwärtige Polizeistaat den Heiligen der Letzten Tage das Leben schwer, besonders aber den Missionaren, und viele Menschen nahmen an, daß es mit der Kirche schon bald aus sein würde. Dies trat aber nicht ein. Sowohl Mitglieder als auch Missionare bemühten sich redlich, mit dem Hitler-Regime auszukommen, ohne an seinen Greueln teilhaben zu müssen. Am wichtigsten war ihnen, auch weiterhin das Evangelium predigen zu können, in ihrer Heimat zu bleiben und die nach so langen Mühen nun endlich blühenden Gemeinden weiter bestehen lassen zu können. Abgesehen davon gab es vergleichsweise wenige Heilige der Letzten Tage, daher konnten sie als Gruppe kaum unter Druck gesetzt werden. In den dreißiger Jahren hatte die Kirche in Europa ein nur geringes Wachstum zu verzeichnen, und die wachsenden politischen Spannungen erschwerten die Missionsarbeit zunehmend.

Im Herbst des Jahres 1938, die Zeit der Münchener Konferenz, wurden die Missionare kurzfristig aus Deutschland abberufen. Dies war eine wichtige Generalprobe für das darauffolgende Jahr, als die Kirche übernacht gezwungen war, alle Missionare aus Deutschland und schließlich aus ganz Europa abzuziehen. Nach der im April 1940 erfolgten Abreise von Thomas E. McKay <McKay, Thomas E.>, dem Präsidenten der Europäischen Mission, waren die örtlichen Führer der Kirche in Europa während des Krieges auf sich selbst gestellt.

Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte die Führer der Kirche dazu, Elder Ezra Taft BENSON <Benson, Ezra Taft> im Jahr 1946 nach Europa zu entsenden und die Situation abzuschätzen, die Heiligen der Letzten Tage zu finden, Hilfsleistungen zu organisieren und, was am wichtigsten war, sie davon zu informieren, daß die Kirche sie nicht im Stich lassen würde. Gleichgültig, wohin er reiste - von England bis nach Österreich - überall fand Elder Benson zahlenmäßig zwar dezimierte jedoch glaubenstreue Gemeinden Heiliger der Letzten Tage vor. Ihre Situation erschütterte ihn so sehr wie ihre Glaubenstreue ihn beeindruckte. Er organisierte den Transport und die Zuteilung der Hilfsgüter, die in Amerika auf Auslieferung an das leidende Europa warteten. Jahre später noch gedachten die Mitglieder lebhaft und voller Dankbarkeit seiner Mission der Güte und fanden dadurch Hoffnung und Mut, sich ihrer ungewissen Zukunft zu stellen. Ein Deutschlehrer, kein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, erinnerte sich, wie er sein erstes Paar Schuhe nach dem Krieg von den Mormonen gespendet bekommen hatte. Schon bald kam weitere Hilfe in Form von CARE-Paketen und den darin enthaltenen Hilfsgütern, die von Freunden und Mitgliedern der Kirche aus Amerika geschickt wurden. Die Heiligen der Letzten Tage in Holland, deren Heimat zu Kriegszeiten von Deutschland angegriffen und besetzt worden war, schickten Kartoffeln nach Deutschland. Zugladungen voller Hilfsgüter wurden aus Utah gleichermaßen an bedürftige europäische Mormonen und Nichtmormonen gesandt. Dadurch kam große christliche Liebe zum Ausdruck, und infolge dieser humanitären Hilfsleistungen wurde das Ansehen der Kirche in Europa erheblich verbessert.

Schon 1946 kamen erneut Missionare nach Europa und bald wurden neue Missionen gegründet. Manch ein Missionspräsident mußte sich auf die Suche nach verstreut lebenden Mitgliedern machen. Vieles war jedoch intakt geblieben. Die Mitglieder versammelten sich, wo es eben ging, manchmal auch in ausgebombten Häusern, Wohnungen oder einfach unter freiem Himmel. Im Jahr 1947 wurde in Finnland eine neue Mission gegründet. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt konzentrierte man sich von neuem darauf, die Heiligen zu stärken und neue Mitglieder zu finden.

Vor dem Krieg hatte den Mitgliedern der Kirche in Europa kein Tempel zur Verfügung gestanden. Viele hatten fleißig genealogische Forschung getrieben, aber es sei denn, sie waren in die USA ausgewandert oder gereist, hatten sie keinen Tempel besuchen und die ausschließlich dem Tempel vorbehaltenen Segnungen empfangen können.

Dies alles sollte sich dramatisch ändern. Die Mitglieder des Nachkriegseuropa empfingen schon bald alle Segnungen und Verantwortungen, die den amerikanischen Heiligen gewährt wurden. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt, im Jahr 1952, gab David O. MCKAY <McKay, David O., gibt Bau des Schweizer Tempels bekannt>, der damalige Präsident der Kirche, den Bau des ersten europäischen Tempels in einem Vorort von Bern in der Schweiz bekannt. Der Schweizer Tempel wurde im September 1955 geweiht. Ein zweiter Tempel in der Nähe von London wurde 1958 fertiggestellt und geweiht. Der Bau dieser Tempel war Zeichen des Beginns eines neuen Zeitalters der Kirche in Europa. In den achtziger Jahren weihte die Kirche den Stockholm-Tempel in Västerhaninge, 1985 den Freiberg-Tempel in der damaligen DDR, und 1987 den Frankfurt-Tempel in Friedrichsdorf. Der nächste europäische Tempel wird in Madrid gebaut.

Andere wichtige Änderungen betrafen die Gründung neuer Missionen und des ersten europäischen Pfahles im Jahr 1961. Mit der zunehmenden Verweltlichung und der damit einhergehenden Forderung nach Religionsfreiheit, dem ökumenischen Geist des 2. Vatikanums der römisch-katholischen Kirche und dem Vorhandensein amerikanischer HLT-Soldaten in Europa gelang es der Kirche, traditionelle Vorurteile abzubauen und in Italien, später auch in Spanien und Portugal, festen Fuß zu fassen. In Frankreich erlebte die Kirche durch viele Taufen eine neue Blühte. Die Zahl der Mitglieder wuchs von 1509 (1960) auf 8606 (1970). Am wichtigsten war, daß man nun unter den westeuropäischen Katholiken genauso wie unter den Protestanten mit gleichem Erfolg Missionsarbeit betreiben konnte.

Die Heiligen der Letzten Tage wuchsen nun nicht nur zahlenmäßig an, sondern auch ihr Wohlstand und ihr Bildungsgrad nahm zu. Europäer wie F. Enzio Busche <Busche, F. Enzio> und Dieter F. Uchtdorf <Uchtdorf, Dieter F.> (aus Deutschland), Charles A. Didier <Didier, Charles A.> (aus Belgien), Derek A. Cuthbert <Cuthbert, Derek A.> (aus England), Jacob de Jager <de Jager, Jacob> (aus Holland), Hans B. Ringger <Ringger, Hans B.> (aus der Schweiz) wurden als Generalautoritäten berufen. Pfähle, Gemeinden und neue Missionen wurden hauptsächlich mit örtlichen Führern gegründet, durch die Einführung des Seminar- und Institutsprogramms wurde die europäische Jugend der Kirche besser in der Lehre der Kirche geschult, es kamen neue und mehr Missionare aus Europa hinzu, und in Mittel- und Osteuropa wurden, besonders nach den politischen Umwälzungen des Jahres 1989, der Kirche die Tore geöffnet.

Das Ansehen der Kirche und ihrer Mitglieder hat sich in Europa nachhaltig verändert. Durch die Einführung der Demokratie und der Wahrung grundlegender Menschenrechte, zu denen auch das Recht auf Religionsfreiheit zählt, durch den starken Einfluß der USA als wichtigste Verteidigungskraft des exponierten Europa während des Kalten Krieges, die Mobilität, den wachsenden Wohlstand des neuen Europa sowie das kräftig ansteigende Wachstum der Kirche wurde der Öffentlichkeit ein günstigeres Bild von der Kirche vermittelt.

Gleichzeitig jedoch machte der intensiver werdende Kalte Krieg das Leben von über 7.000 in der DDR lebenden Heiligen der Letzten Tage zunehmend schwieriger. Die scharfe antikommunistische Rhetorik der USA, die Einflußnahme der Sowjetunion und deren ausgeprägt kommunistische Vorurteile gegen Kirchen und gläubige Menschen im allgemeinen führte dazu, daß die hinter dem eisernen Vorhang lebenden Heiligen der Letzten Tage überwacht und schikaniert wurden. Die Errichtung der Berliner Mauer im Jahr 1961 sonderte sie, abgesehen von gelegentlichen Besuchen von Generalautoritäten aus dem Westen, von den anderen Mitgliedern der Kirche ab. Um sich mit dem Regime zu arrangieren, fielen einige von der Kirche ab, der Großteil schloß sich jedoch zu einer starken, fest zusammenhaltenden HLT-Gemeinschaft zusammen.

Um den Bedürfnissen der Mitglieder gerecht zu werden und ihr gesellschaftliches Ansehen zu steigern, begann die Kirche in den sechziger Jahren mit einem Bauprogramm vieler neuer Gemeindehäuser. Gegen 1979 gab es in ganz Westeuropa Gemeindehäuser, die auf die Kirche aufmerksam machten und den Mitgliedern das Gefühl vermittelten, etwas geleistet zu haben. Sie trugen auch dazu bei, die Kirche von ihrem Sekten-Image und der damit einhergehenden Mentalität zu befreien und den Mitgliedern nach Jahren der Verfolgung und der Respektlosigkeit gegenüber der Kirche das Gefühl zu geben, sich freier in der Gesellschaft bewegen zu können.

In den frühen siebziger Jahren wurde das Seminar- und Institutsprogramm eingeführt, um die europäische Jugend der Kirche zu stärken und den HLT-Familien zu helfen, ihre Kinder im Evangelium zu erziehen sowie sie auf eine Mission und ein Leben im Dienste des Evangeliums vorzubereiten. Im Laufe der Jahre gingen immer mehr junge europäische Männer und Frauen auf Mission. In den siebziger Jahren gab es auch mehrere Gebietskonferenzen, um den europäischen Mitgliedern vor Augen zu führen, wie sehr sie zahlenmäßig bereits angewachsen waren und den Führern der Kirche Gelegenheit zu geben, sie erneut darauf hinzuweisen, daß sie in ihrer Heimat bleiben und die Kirche dort aufbauen sollten.

OSTEUROPA. Vor den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts konnte die Kirche hauptsächlich in den protestantischen Ländern Westeuropas auf Erfolge verweisen. Um die Jahrhundertwende wurden einige Untersucher in Ungarn getauft, darunter auch Janos Denndorfer <Denndorfer,Janos>. Später gab es auch in der Tschechoslowakei einige Taufen, aber die Umwälzungen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts und die Errichtung des Eisernen Vorhangs in Osteuropa verhinderten in diesen Ländern das Verkünden des Evangeliums und die Ausbreitung der Kirche.

In den sechziger Jahren wurde versucht, in Jugoslawien Missionsarbeit zu verrichten, aber erst als Kresimir Cosic <Cosic, Kresimir> die Brigham Young University besuchte, dort getauft und später in seiner Heimat ein berühmter Basketballspieler wurde, konnte die Kirche in Jugoslawien Fuß fassen. Einigen wenigen Missionaren wurde die Einreise gestattet, aber die Möglichkeiten zur Missionsarbeit erwiesen sich als äußerst eingeschränkt.

Die Bemühungen der Kirche, auch in Mittel- und Osteuropa Fuß zu fassen, gingen hauptsächlich von Wien aus, da diese Stadt die Hauptstadt der vielsprachigen Österreichisch-Ungarischen Monarchie des neunzehnten Jahrhunderts gewesen war. In den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts wurden einige Missionare nach Budapest berufen. und bereits in den frühen achtziger Jahren hatte man es zu einer über hundertköpfigen Gemeinde gebracht, die aus tüchtigen, gebildeten Ungarn bestand. Dieser langsame Durchbruch verlief so gut wie parallel zur Abwendung der ungarischen Gesellschaft und Politik von ihren kommunistischen Gebietern und der Hinwendung zum Westen.

Für Präsident Spencer W. KIMBALL <Kimball, Spencer W.> war die Notwendigkeit, das Evangelium weltweit zu predigen, besonders aber in jenen Ländern, die der Kirche bislang verschlossen geblieben waren, zu einer brennenden Leidenschaft geworden. Er hatte dabei keinerlei politische Hintergedanken. Ein wichtiger Durchbruch war zu verzeichnen, als es Botschafter David M. Kennedy <Kennedy, David M.> gelang, in verschiedenen Ländern die staatliche Anerkennung der Kirche zu erwirken und Polen 1977 von Präsident Kimball dem Verkünden des Evangeliums geweiht wurde. Dem folgte eine offizielle Kurskorrektur der Kirche in ihrer Haltung gegenüber dem Kommunismus und ebnete weiteren wichtigen Erfolgen in den achtziger Jahren den Weg, denn sie machte es möglich, mit den in der damaligen Tschechoslowakei verstreut lebenden Mitgliedern der Kirche in Verbindung zu treten und trug der Kirche Anerkennung und die Achtung der kommunistischen DDR-Regierung ein. Dies war ein wichtiger Durchbruch in jenen Teilen Europas. Die dramatischsten Folgen dieser neuen Beziehung war der 1985 erfolgte Bau des Tempels in Freiberg (in der damaligen DDR), wo hunderte Mitglieder, die ein Leben lang bei der Kirche gewesen waren, sich ihren Lebenstraum erfüllen und den Tempel besuchen konnten. Ebenso kam es nach beinahe vierzig Jahren zur Zulassung von Missionaren in der DDR. Im Jahr 1989 durften die ersten Missionare die DDR verlassen und nach Salt Lake City reisen, von wo aus sie in verschiedene Länder der Welt auf Mission entsandt wurden.

Die so gut wie unblutigen Revolutionen des Jahre 1989 boten der Kirche Gelegenheit, in Mittel- und Osteuropa ein neues Zeitalter einzuläuten. Nach dem Fall der kommunistischen Regierungen und der Einrichtung demokratischerer Regierungsformen in einem Land nach dem anderen, ertönte so gut wie überall der Ruf nach Religionsfreiheit. Dies hatte zur Folge, daß die Kirche gegen Ende 1990 in diesen Ländern unter beinahe denselben Bedingungen arbeiten konnte wie in Westeuropa und den USA. Die deutsche Wiedervereinigung bewirkte, daß alle Gesetze der Bonner Verfassung auch in der ehemaligen DDR in Kraft traten. In Polen,Ungarn und Griechenland wurden Missionen gegründet und in Tschechien wurde die Missionsarbeit nach langen Jahren erneut fortgesetzt. Die Regierungen dieser Länder stehen den Heiligen der Letzten Tage wegen ihrer jüdisch-christlichen Ethik und ihrem starken Familiensinn positiv gegenüber. In der ehemaligen Sowjetunion ist die Kirche staatlich anerkannt, und es stehen ihr viele Möglichkeiten offen. Auch in Rumänien und Bulgarien gibt es offiziell Missionare - ebenfalls ein wichtiger Fortschritt für die Kirche. Seit den neunziger Jahren unseres Jahrhunderts steht die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Europa vor einem bedeutenden Neubeginn. Ihre wichtigste Herausforderung, sowohl in Ost als auch in West, besteht darin, ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen und sich noch mehr Anerkennung zu verschaffen. Vielen Europäern ist die weltweite Präsenz der Kirche, ihr schnelles Wachstum, ihre Lehre und die Lebensqualität, die sie ihren Mitgliedern bietet, nicht bekannt.

Abgesehen von großen Erfolgen in Portugal wächst die Kirche in Westeuropa noch eher langsam, aber sie etabliert sich immer mehr. Überall leben starke HLT-Familien der zweiten, dritten und sogar vierten Generation. Die Mitglieder der Kirche nutzen die Vorteile besserer Bildungsmöglichkeiten, eignen sich eine höhere Bildung an und sind daher eher in der Lage, zum westeuropäischen Wohlstand beizutragen und Nutzen daraus zu ziehen. Die europäischen Mitglieder der Kirche entsenden heute mehr eigene Missionare, als je zuvor, und schon seit zwei oder drei Generationen sind die Führer der Kirche in Europa einheimische Europäer.

Vom Standpunkt der Kirche aus ist Europa nach wie vor zweigeteilt. Die westeuropäischen Länder sind weltlich gesinnt, reich und religiös desinteressiert. Mittel und Weg zu finden, um das Interesse und das Ansehen dieser verweltlichten Gesellschaft erneut zu gewinnen, ist eine der entscheidendsten Herausforderungen der Kirche. In Mittel- und Osteuropa wird es im kommenden Jahrtausend wahrscheinlich tausende neubekehrte Mitglieder und Gemeinden der Kirche geben. So wie die Menschen dieser Länder einen neuen Geist der Freiheit und der Menschenrechte nach Westeuropa gebracht haben, werden sie vielleicht auch einen neuen Geist religiösen Interesses zu wecken wissen, der der Kirche zum Nutzen gereicht.

BIBLIOGRAPHIE

Babbel, Frederick W. On Wings of Faith. Salt Lake City, 1972.

“Encore of the Spirit”, Ensign 21, Okt. 1991, S. 32–35.

Sharffs, Gilbert W. Mormonism in Germany. Salt Lake City, 1970.

DOUGLAS F. TOBLER