Epistemologie ist die Teildisziplin der Philosophie, die sich mit der Beschaffenheit und dem Umfang des Wissens befasst. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage nimmt keine einheitliche Stellung ein zu den klassischen Angelegenheiten der Epistemologie, wie beispielsweise die Beziehung der Wissensquellen, Wahrheitstheorien und Formen der Nachprüfung. Die Überlegenheit des Wissens durch Offenbarung von Gott wird jedoch allgemein aus den Schriften zitiert.
Der Begriff „Wissen“ wird auf verschiedene Weise gebraucht und hat in verschiedenen Kulturen verschiedene Bedeutungen. Unterschiedliche Arten von Wissen können voneinander unabhängig sein.
Gleich dem generellen westlichen Denken betont die westliche, philosophische Tradition Wissen als sachliches Wissen. Diese Betonung ist jedoch nicht unbedingt angebracht, besonders aus der Perspektive des Evangeliums. Einige Schriften betonen, dass andere Formen von Wissen wichtiger sein können. Dementsprechend betete Jesus: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Johannes 17:3). Dies ist Wissen durch Vertrautheit, eher ein „Wissen über etwas“ (vgl. JSÜ Matthäus 7:32-33). Es gibt auch Anzeichen dafür, dass sachliches Wissen allein für die Erlösung nicht ausreichend ist: „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst“ (Jakobus 1:22). Auf Wunsch von Präsident Spencer W. Kimball, eines Propheten, wurde der Text in einem Kinderlied der HLT im Englischen von „Lehr mich alles, was ich wissen muss“ zu „Lehr mich alles, was ich tun muss“ geändert, da es nicht genug ist einfach zu wissen. Man muss auch den Willen des Herrn tun.
Ein verwandtes Evangeliumsthema deutet an, dass Handeln zum Wissen führt. „Wer bereit ist, den Willen Gottes zu tun, wird erkennen, ob diese Lehre von Gott stammt oder ob ich in meinem eigenen Namen spreche“ (Johannes 7:17). Der Prophet Joseph Smith sagte, „Wir können nicht alle Gebote halten, ohne sie zuerst zu kennen und wir können nicht erwarten alle, oder mehr zu kennen als wir jetzt kennen, außer wir befolgen oder halten die, die wir schon empfangen haben“ (LPJS, S. 256).
Formale Philosophie definiert „zu wissen“ im Sinne von sachlichem Wissen oft als wahren Glauben mit guten Gründen. Mit anderen Worten, weiss eine Person eine Aussage X, wenn und nur wenn diese Person X glaubt und wenn X wahr ist und wenn die Person gute Gründe hat X zu glauben. Die europäisch-amerikanische, philosophische Tradition erkennt zwei Arten von Gründen an, welche den Anspruch auf das Wissen unterstützen: Rationale Argumente und empirische Beweise. Innerhalb der Kirche werden diese stillschweigend als Wissensquellen anerkannt, manchmal sogar als Quellen religiösen Wissens. Beispielsweise beobachtete James E. Talmage, nachdem er die traditionellen Argumente für die Existenz Gottes geprüft hatte, dass einige in Bezug auf Gottes Existenz „zumindest nachhaltig bestärkend“ sind (AF, S. 29).
Es gibt jedoch eine fortwährende Tradition, die auf den Schriften basiert und von neuzeitlichen Kirchenführern bestärkt wird. Gemäß dieser Tradition erfordert religiöses Wissen eine andere und bezeichnende geistige Quelle. „Wir glauben an [die Gabe des Heiligen Geistes] in all seiner Fülle und Macht und Größe und Herrlichkeit“ (LPJS, S. 243; LuB 76:114-116). Heilige der Letzten Tage erkennen allgemein an, dass man das Wissen vom Evangelium schließlich durch geistige statt allein durch rationale und empirische Mittel empfangen muss (z.B. 1 Korinther 12:3). Somit gibt es in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage kein deutliches Gegenstück zur römisch-katholischen Tradition natürlicher Theologie.
Eine der suggestivsten und häufig zitierten Schriftstellen in den Lehren der HLT sagt folgendes aus: „Und durch die Macht des Heiligen Geistes könnt ihr von allem wissen, ob es wahr ist“ (Moroni 10:4-5). Diese Schriftstelle bezieht sich generell auf alles Wissen. Demnach können rationale Argumente und empirische Beweise, die beiden traditionellen Ansätze des Wissens, von geistigem Wissen entweder verdrängt oder umgeben werden. Natürlich sagen die Schriften nicht, dass Wissen nur vom Heiligen Geist kommt. Allerdings meint man innerhalb der Kirche oft, dass weltliches Lernen wie beispielsweise neuzeitliches, wissenschaftliches Wissen direkt zur Wiederherstellung des Evangeliums gehört und in göttlicher Inspiration auf der ganzen Welt seine Wurzeln findet. [Siehe auch Glaube an Jesus Christus; Prophet; Propheten; Verstand und Offenbarung; Wissenschaft und Religion.]
K. CODELL CARTER