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BIBELGELEHRSAMKEIT

Heilige der Letzten Tage erkennen die Bibelgelehrsamkeit und das intellektuelle Studium des biblischen Textes an. Joseph Smith und seine Mitarbeiter studierten Griechisch und Hebräisch und vertraten die Ansicht, dass man sich religiöses Wissen sowohl durch Studium als auch durch Glauben aneignen muss (LuB 88:118). Heilige der Letzten Tage halten Bibelgelehrsamkeit zwar durchaus für angebracht, lehnen jedoch ab, ausschließlich davon getrieben zu werden. 

Der Prophet Joseph Smith schlug gewisse, umfassende Rahmenbedingungen für jedes kritische HLT Studium der Bibel vor: „Wir glauben, daß die Bibel, soweit richtig übersetzt, das Wort Gottes ist; wir glauben auch, daß das Buch Mormon das Wort Gottes ist“ (GA 8). Da Heilige der Letzten Tage Propheten den Schriftgelehrten als geistige Führung vorziehen und die Inspiration der Schriften und den Heiligen Geist dem Urteilsvermögen weltlicher Texte vorziehen, spielt die Bibellehrsamkeit in der Geistlichkeit der HLT eine geringere Rolle als in manchen anderen Religionsgemeinschaften. 

Ein grundlegendes Arbeitsprinzip „offenbarter“ Religionen ist, dass alle Wahrheit durch das logische Denken von Menschen allein nicht vollständig entdeckt werden kann. Ohne die Hilfe Gottes kann niemand die wesentlichen Tatsachen, genauen Perspektiven und interpretativen Schlüssel erhalten, um ihn zu kennen (Siehe Logisches Denken und Offenbarung). Da Heilige der Letzten Tage glauben, dass ihre Religion durch lebende Propheten Gottes offenbart wurde, ordnen sie den menschlichen Verstand offenbarter Wahrheit unter.

In dieser letzteren Verbindung zeigen Heilige der Letzten Tage etwas Verbundenheit mit der zeitgenössischen, konservativen Bibelgelehrsamkeit der Römisch Katholischen und der Evangelischen Kirche. Sie akzeptieren und gebrauchen die meisten objektiven Ergebnisse der Bibelgelehrsamkeit, wie beispielsweise Linguistik, Geschichte und Archäologie. Dabei lehnen sie viele naturalistische Annahmen des Wissenszweigs und dessen subjektivere Methoden und Theorien ab. In solchen Fällen, wo Bibelgelehrsamkeit und offenbarte Religion zueinander im Konflikt stehen, halten sich Heilige der Letzten Tage an Interpretationen der Bibel, die in den anderen Schriften der HLT und in den Lehren von Propheten der HLT vorkommen. 

Diese Beobachtungen weisen auf drei grundlegende Arbeitsprinzipien für Bibelgelehrsamkeit unter Heiligen der Letzten Tag hin: 1. Ein Herangehen an die Bibel muss göttliche Inspiration annehmen und Offenbarung im originalen Bibeltext: es präsentiert das Wort Gottes und ist nicht ein bloßes menschliches Produkt. Daher wird jede kritische Methode abgelehnt, die implizit oder explizit die kennzeichnende Einbeziehung Gottes im biblischen Text ignoriert oder leugnet. Mit geringen Ausnahmen, wie dem Lied des Salomo, welches Joseph Smith als uninspiriert beurteilte (vgl. IE 18 [Mar. 1915]:389), soll der Text nicht auf eine ultimativ naturalistische Weise behandelt werden. Gottes Teilnahme betrachtet man als bezeichnend, sowohl in den Ereignissen selbst als auch in dem Vorgang diese aufzuzeichnen. Seine Aktivität ist somit einer der Effekte, mit denen man bei der Deutung der Ereignisse und beim Verstehen der Texte, die diese enthalten, rechnen muss. 

2. Trotz göttlicher Inspiration ist der Bibeltext von der menschlichen Sprache nicht unbeeinflusst. Er ist nicht immun gegen negative Einflüsse von seinem menschlichen Umfeld. Es gibt keine Garantie, dass die Offenbarungen an die alten Propheten vollkommen erhalten wurden (vgl. 1 Nephi 13:20-27). Somit gewährleistet und erlaubt das kritische Studium der Bibel die Hilfe und empfiehlt Korrekturen von menschlichen Formunlierungsfehlern, von Übermittlung, Übersetzung und Interpretation der alten Aufzeichnungen.  

3. Zusätzlich zum Erkennen der göttlichen Ursprünge der Bibel muss eine solche kritische Gelehrsamkeit in ihren Schlussfolgerungen die Lehren des Buches Mormon beachten und die anderen Offenbarungen an neuzeitliche Propheten. Diese sind in Lehre und Bündnisse und in der Köstlichen Perle enthalten, denn für Heilige der Letzten Tage haben solche Quellen nicht nur höhere Priorität als Offenbarungen, die in alter Zeit aufgezeichnet wurden (vgl. LuB 5:10), sondern helfen auch bei der Deutung des Bibeltextes. 

Heilige der Letzten Tage bestehen auf objektive Hermeneutik. Demnach behaupten sie, dass der Bibeltext eine spezifische, objektive Bedeutung hat und dass die Absicht des ursprünglichen Autors sowohl wichtig als auch größtenteils wiederherstellbar war. Aus diesem Grund tendierten Gelehrte der HLT wie andere Konservative zu den eher objektiven Mitteln der Bibelgelehrsamkeit, wie Linguistik, Geschichte und Archäologie. Dabei erkannten sie, dass diese Mittel selbst kritisch ausgewertet werden müssen. Im Allgemeinen mieden sie die eher subjektiven Methoden der Literaturkritik. 

Zu den einflussreichsten Bibelkommentatoren der HLT zählen James E. Talmage, Bruce R. McConkie, Sidney B. Sperry und Hugh W. Nibley. Talmage beendete sein Werk noch vor vielen wichtigen Entdeckungen. McConkies Werk beschäftigt sich weniger mit kritischer Auslegung als mit dem Verständnis des Neuen Testaments innerhalb der gesamten Lehre der HLT. 

BIBLIOGRAPHIE

Anderson, Richard L. Understanding Paul. Salt Lake City, 1983.
McConkie, Bruce R. Doctrinal New Testament Commentary, 3 vols. Salt Lake City, 1965-1973.
Nibley, Hugh W. Collected Works of Hugh Nibley. Salt Lake City, 1986-.
Sperry, Sidney B. Paul's Life and Letters. Salt Lake City, 1955.
Sperry, Sidney B. The Voice of Israel's Prophets. Salt Lake City, 1961.
Sperry, Sidney B. The Spirit of the Old Testament. Salt Lake City, 1970.
Talmage, James E. Jesus the Christ. Salt Lake City, 1915.

STEPHEN E. ROBINSON