Die Bergpredigt (Matth. 5-7) ist für Heilige der Letzten Tage und alle anderen Christen von je her eine der wichtigsten Quellen der Lehren Christi und des christlichen Verhaltens. Die Tatsache, dass parallellaufende Berichte im Buch Moromon (3 Ne. 12-14) und in der Joseph-Smith-Übersetzung der King-James-Bible existieren bietet uns die Möglichkeitt, die Bergpredigt besser verstehen zu können. Auch widerlegen diese Berichte die Ansicht, dass Joseph Smith die Bergpredigt einfach plagiiert haben soll. Ein sorfältiger Vergleich dieser Texte deckt wesentliche Unterschiede auf, die auf ganz bestimmte Szenarien der Predigt im Buch Mormon zuzuführen sind.
Hier erscheint der auferstandene Jesus auf der westlichen Hemisphäre rechtschaffenen Überlebenden eines heftigen Sturms und großen Erdbebens, die sich beim Tempel zu Bountiful versammelt hatten. Dem Handlungsort gemäß spricht dieser Bericht zunächst davon, wie die heilige Handlung der Taufe durch zwölf Männer, die Christus auserwählt hat, an diesen Menschen vollzogen werden soll; erst mit Wasser und hernach mit Feuer [Heiliger Geist] durch Christus selber (3 Ne. 12:1). Somit liefert die Predigt den Anwesenden beim Tempel ein besseres Verständnis betreffs ihrer Verantwortlichkeiten und Obligationen. Da Christus das Gesetz „was Mose gegeben wurde” (3 Ne. 15:4-10) erfüllt hatte, das Gesetz, nach dem sich diese Überlebenden richteten, machte der Heiland sie mit der Fülle des Evangelium Jesu Christi, welches unter ihnen eingeführt worden war, besser bekannt. Als dieses Evangelium überall im Land Wurzeln fasste und das Volk seinen Grundsätzen Gerhorsam leistete, brachte es ihnen zweihundert Jahre Friede und Harmonie ein. Da Jesus selber klarstellte, dass er eine gleichartige Predigt vor seiner Himmelfahrt in Palestina abgehalten hatte (3 Ne. 15:1), sind sich Heilige der Letzten Tage sicher, dass jene Bergpredigt eine einheitliche Darbietung ist, die zu verschiedenen Anlässen gegeben worden war (JSÜ Matth. 7:2, 9, 11) und nicht nur eine durch Matthäus, oder weiteren Quellen errichtete Kollektion darstellt. Wie es öfters bei Predigern der Fall ist, kann der Sprecher das Wesentliche seiner Rede mit Neuerungen wiederholen, die er situationsgerecht dem Publikum anpasst.
RAHMEN DER BERGPREDIGT. Obwohl vieles der Bergpredigt im 3. Nephi 12-15 der Predigt im Matthäus 5-7 gleicht, bestehen jedoch zahlreiche und wesentliche Unterschiede. Die meisten von ihnen werden von dem bestimmten Kulturrahmen der Predigt im Buch Mormon bestimmt. Erstens, der auferstandene Herr eröffnet seine Predigt im Buch Mormon mit drei weiterern Seligpreisungen. Sie unterstreichen den Zweck seiner Rede, nämlich dass sie für seine Gläubigen bestimmt ist: „Gesegnet seid ihr, wenn ihr die Worte dieser Zwölf beachtet, die ich aus euch erwählt habe... darum seid ihr gesegnet, wenn ihr an mich glaubt und euch taufen laßt... Und... mehr gesegnet sind die, die deshalb an eure Worte glauben... und sich taufen lassen, denn... sie werden Vergebung empfangen für ihre Sünden (3 Ne.12:1-2). Hinzu käme, dass diese Begebenheit im Buch Mormon ein nach der Auferstehung verfasster Bericht ist und es die Tatsache besonders hervorhebt, dass Christus sein Erlösungswerk vollkommen erfüllt hat. Somit fasst Jesus die im 3. Nephi 12:21-45 verzeichnete Serie von Antithesen folgendermaßen zusammen: „Darum sind die Dinge, die von alter Zeit waren, die unter dem Gesetz waren, in mir alle erfüllt (3 Ne 12:46). Ferner, anstatt zu sagen, „Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer Vater im Himmel ist” (Matth. 5:48), setzt Christus hier bedeutungsvoll hinzu: „Darum möchte ich, daß ihr vollkommen seiet, so wie ich oder euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist (3 Ne. 12:48; Hervorhebung hinzugefügt). Anstatt des etwas unbefristeten es „wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist” (Matth. 5:18), ersetzt das Buch Mormon das Satzglied „bevor nicht alles geschen ist” mit „sondern in mir ist alles erfüllt” (3 Ne. 12:18).
Weitere Veränderungen spiegeln beides, den kulturellen Rahmen des Buches Mormon wieder, sowie die Abwesenheit antipharisäischer Aussagen, die im Matthäus Evangelium markant auftreten. Zwei Beispiele des Erstgenannten sind, „Pfennig” (Matt. 5:26) welcher durch „Senine” (3 Ne. 12:26), das kleinste Goldmaß der Nephiten (Alma 11:3, 15-19), ersetzt wird. Und zweitens ist das schwören „bei Jerusalem... die Stadt des großen Königs” (Matth. 5:35) abwesend. Ähnlich steht es mit der Predigt beim Tempel zu Bountiful. Sie spricht zum Beispiel nicht von einer Gerechtigkeit, die „nicht weit größer ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten,” wie es im Matthäus geschrieben steht (Matth. 5:20), oder, betreffs Zöllner, wie sie unter ihren Freunden geschätzt werden (Matth. 5:46-47). Anstelle dieser Schriftgelehrten- und Pharisäer-Zitate erklärte der Herr den Nephiten: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr meine Gebote nicht haltet, die ich euch zu dieser Zeit geboten habe, werdet ihr auf keinen Fall ins Himmelreich eingehen” (3 Ne. 12:20). Ferner enthält dieser Bericht im Buch Mormon keinerlei Hinweise betreffs Selbstverstümmelung, wie sie in Matthäus 5:29-30 auffindbar sind.
KLARSTELLUNGEN. Ein weiterer Unterschied besteht aus Ergänzungen, die dem Text der Bergpredigt zugefügt wurden, und die oft klar und sinnvoll sind. Mehrere Beispiele sind in den Seligpreisungen auffindbar. Die Buch Mormon-Version vermerkt, „Ja, gesegnet sind die im Geist Armen, die zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich (3 Ne. 12:3; vgl. Matth. 5:3; Hervorhebung hinzugefügt). Und am Ende vom 3 Ne. 12:6 (vgl. Matth. 5:6) heißt es, “Gesegnet sind alle, die hungern und dürsten nach Rechtschaffenheit, denn sie werden vom Heiligen Geist erfüllt werden (Hervorhebung hinzugefügt). Obwohl diese Veränderungen als minimal betrachtet werden könnten, vergrößern und bereichern sie nichtsdestoweniger das Verständnis von dem, was Jesus tatsächlich meint.
Den Heiligen der Letzten Tage gemäß liegt der Botschaftsakzent der Bergpredigt in ihrem normativen Wert. Als Bundesvolk nehmen sie die Verantwortung auf sich in ihrem eigenen Leben dem Leben Christi nachzueifern und auf das höchste Ziel hinzuarbeiten, nämlich so zu werden wie der Herr ist. Und obwohl die Erfordernisse beachtlich sind, ist ihnen ein Anreiz gegeben nach diesem göttlichen Vorbild zu verlangen und zu streben (vgl. 2 Ne. 31:7-10, 16; 3. Ne. 27:27). Die schlichten Worte und einfachen Lehren, die Jesus seinen Nachfolgern in Palestina, sowohl wie den Überlebenden im Buch Mormon vermittelte, sind für die Heiligen auch heute noch genauso zutreffend. [Siehe Das Vaterunser.]
BIBLIOGRAPHIE
Stendahl, Krister. “The Sermon on the Mount and Third Nephi.” In Reflections on Mormonism, ed. T. Madsen, pp. 139-54. Provo, Utah, 1978.
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Welch, John W. The Sermon at the Temple and the Sermon on the Mount. Salt Lake City, 1990.
ROBERT TIMOTHY UPDEGRAFF